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Für Ellen Datlow und Steve Jones

Doch wo es ein Ungeheuer gibt, gibt es auch ein Wunder.

Ogden Nash,

Dragons Are Too Seldom

Deutung der Eingeweide: Ein Rondeau

»Ich meine«, sagte sie, »es bleibt einem doch gar nichts anderes übrig, als zu wachsen.«

»Einem vielleicht nicht«, sagte Humpty Dumpty, »aber zweien schon. Mit dem rechten Beistand hättest du mit sieben ohne weiteres aufhören können.«

Lewis Carroll,

Alice hinter den Spiegeln

Sie nennen’s Schicksal, Unbill oder Glück,

Den Lauf der Sterne und der Würfel Fall.

Doch morgen weicht der Nebel im Kristall,

Fällt jede üble Tat auf dich zurück.

Du willst die Zukunft wissen, dein Geschick?

Ich seh die Zeichen deutlich, überall.

Sie nennen’s Schicksal, Unbill oder Glück,

Den Lauf der Sterne und der Würfel Fall.

Ich werde kommen in dem Augenblick

Wenn Schlaf dich führt zu Traumes Maskenball.

Schon bin ich da, du merkst es nicht einmal.

Nehm ich dein Herz? Wer weiß. Probier ein Stück?

Sie nennen’s Schicksal, Unbill oder Glück.

Eine Einführung

Schreiben ist wie Fliegen im Traum.

Wenn man sich erinnert. Wenn man kann. Wenn es klappt.

So einfach ist das.

NOTIZEN DES AUTORS, FEBRUAR 1992

Sie verwenden Spiegel. Das ist natürlich ein Klischee, aber es ist auch wahr. Zauberer benutzen Spiegel, meist in einem Fünfundvierzig-Grad-Winkel, seit die Viktorianer vor weit über hundert Jahren anfingen, verlässliche, klare Spiegel als Massenware herzustellen. John Nevil Maskelyne tat es 1862 als Erster mit einem Kleiderschrank, der, dank eines geschickt angebrachten Spiegels, mehr verbarg, als er zeigte.

Spiegel sind etwas Wunderbares. Sie scheinen die Wahrheit zu sagen, eine Reflexion des Lebens zu zeigen, doch wenn man einen Spiegel richtig einsetzt, kann er so überzeugend lügen, dass man glaubt, ein Gegenstand habe sich in Luft aufgelöst, dass eine Kiste voller Tauben und Fähnchen und Spinnen leer sei, dass die Leute hinter der Kulisse oder im Parkett schwebende Geister auf der Bühne seien. Bringt man ihn in den richtigen Winkel, wird ein Spiegel zum magischen Fenster und zeigt dir alles, was du dir nur vorstellen kannst. Und vielleicht auch ein paar Dinge, die du dir nicht vorstellen kannst.

(Der Rauch lässt die Umrisse verschwimmen.)

Geschichten sind auf die eine oder andere Weise nichts anderes als Spiegel. Wir verwenden sie, um uns zu erklären, wie die Welt funktioniert oder eben auch nicht funktioniert. Genau wie ein Spiegel bereiten Geschichten uns auf den neuen Tag vor. Lenken uns von den Dingen ab, die im Dunkeln liegen.

Fantasy – und jede Fiktion ist in gewisser Weise Fantasy – ist ein Spiegel. Ein Zerrspiegel, zugegeben, der Dinge verbirgt, der in einem Fünfundvierziggradwinkel zur Realität steht, aber ein Spiegel nichtsdestotrotz und wenn wir hineinschauen, kann er uns Dinge erzählen, die wir sonst vielleicht nie sehen würden. (Märchen sind mehr als wahr, hat G.K. Chesterton einmal gesagt. Nicht weil sie uns erzählen, dass es Drachen gibt, sondern weil sie uns erzählen, dass man Drachen besiegen kann.)

Heute hat der Winter begonnen. Der Himmel wurde grau, dann fing es an zu schneien und hörte bis lange nach Einbruch der Dunkelheit nicht mehr auf. Ich habe im Dunkeln gesessen und den Schnee fallen sehen. Glitzernd und schimmernd wirbelten die Flocken ins Licht und verschwanden wieder. Und ich habe darüber nachgedacht, woher Geschichten kommen.

Das ist eins von den Dingen, über die man so nachdenkt, wenn man davon lebt, sich irgendwelches Zeug auszudenken. Ich bin immer noch nicht sicher, ob das eine geeignete Beschäftigung für einen erwachsenen Menschen ist, aber jetzt ist es zu spät: Es sieht so aus, als hätte ich einen Beruf gefunden, der mir Spaß macht und für den ich morgens nicht zu früh aufstehen muss. (Als ich ein Kind war, haben die Erwachsenen immer gesagt, ich dürfe mir nicht ständig solche Sachen ausdenken, und sie haben mich davor gewarnt, was mir passieren könnte, wenn ich es doch täte. Soweit ich bislang feststellen kann, sind die Folgen jedoch durchaus erträglich: viele Reisen in fremde Länder und ich muss morgens nicht allzu früh aus den Federn.)

Die meisten Geschichten in diesem Buch wurden geschrieben, um die verschiedenen Lektoren und Herausgeber zu unterhalten, die mich um Beiträge für bestimmte Anthologien gebeten hatten (»Es ist für eine Geschichtensammlung über den Heiligen Gral«, »… über Sex«, »… Märchen, für Erwachsene neu erzählt«, »… Sex und Horror«, »… Rachegeschichten«, »… über Aberglauben«, »… noch mehr Sex«). Ein paar wurden auch geschrieben, um mich selbst zu unterhalten, oder genauer gesagt, um eine Idee oder ein Bild aus meinem Kopf zu kriegen und sicher auf Papier zu fixieren, was meiner Meinung nach keineswegs der schlechteste Grund fürs Schreiben ist: die Dämonen freisetzen, sie davonfliegen lassen. Manche der Geschichten begannen als müßige Gedanken – Fantasien und Kuriositäten, die einfach außer Kontrolle gerieten.

Ich habe mir einmal eine Geschichte als Hochzeitsgeschenk für ein befreundetes Paar ausgedacht. Sie handelte von einem Brautpaar, das eine Geschichte als Hochzeitsgeschenk bekam. Es war eine eher beunruhigende Geschichte. Nachdem ich sie mir ausgedacht hatte, kam ich zu dem Schluss, dass diese Freunde sich über einen Toaster vermutlich mehr freuen würden. Also habe ich ihnen einen Toaster gekauft und die Geschichte bis zum heutigen Tag nicht aufgeschrieben. Bis zum heutigen Tag sitzt sie in meinem Hinterkopf fest und wartet darauf, dass endlich zwei Leute heiraten, die sie zu schätzen wüssten.

Und gerade wird mir klar (während ich diese Einführung mit schwarzblauer Füllertinte in ein Notizbuch mit schwarzen Umschlag schreibe, nur für den Fall, dass dich das interessiert), dass die meisten Geschichten in diesem Buch zwar auf die eine oder andere Weise von Liebe handeln, dass es aber nicht genug schöne Geschichten enthält, Geschichten, in denen die Liebe angemessen belohnt wird, die einen Ausgleich schaffen könnten, ein Gegengewicht zu den anderen Formen der Liebe, die sich in diesem Buch finden. Darüber hinaus wird mir gerade klar, dass es Leute gibt, die überhaupt keine Einführungen lesen. Und außerdem könnte es doch sein, dass der eine oder andere von euch da draußen eines Tages doch heiratet. Also für all jene unter euch, die Einführungen lesen: Hier ist die Geschichte, die ich nie geschrieben habe. (Und sollte sie mir nicht gefallen, wenn ich sie zu Papier gebracht habe, kann ich diesen Absatz immer noch streichen und ihr werdet nie erfahren, dass ich aufgehört habe, diese Einführung zu schreiben, um stattdessen eine Geschichte zu beginnen.)

Das Hochzeitsgeschenk

Nach den Freuden und all den Aufregungen der Hochzeit, nach dem ganzen Irrsinn und dem Zauber (ganz zu schweigen von der Peinlichkeit, als Belindas Vater nach dem Essen seine Rede hielt, komplett mit Familiendias), nachdem die Flitterwochen vorüber waren (selbst wenn sie, metaphorisch gesprochen, noch lange andauerten) und ehe ihre Sonnenbräune im englischen Herbstwetter verblassen konnte, machten Belinda und Gordon sich daran, die Hochzeitsgeschenke auszupacken und Danksagungen zu schreiben – zahllose Danksagungen, um jedes Handtuch und jeden Toaster abzudecken, den Entsafter, den Brotbackautomaten, das Besteck und Geschirr, die Teemaschine und die Vorhänge.