»Einen sehr weiten Weg.«
»Verstehe«, sagte Mrs. Whitaker. Sie holte eine blaue Plastikschüssel unter der Spüle hervor und füllte sie zur Hälfte mit Wasser. Galahad brachte sie Grizzel. Er wartete, während das Pferd soff, und brachte Mrs. Whitaker die leere Schüssel zurück.
»Also dann«, begann Mrs. Whitaker. »Ich nehme an, Sie wollen den Gral.«
»Ja. Immer noch strebe ich nach dem Sangrail«, antwortete er. Er hob das in Leder eingeschlagene Paket vom Boden auf, legte es auf die Tischdecke und öffnete es. »Zum Tausch biete ich Euch dies.«
Es war ein Schwert, die Klinge über einen Meter lang und mit hauchfeinen Buchstaben und Symbolen verziert. Das Heft war aus Gold und Silber gearbeitet, den Abschluss des Knaufs bildete ein riesiger Edelstein.
»Es ist sehr hübsch«, sagte Mrs. Whitaker zweifelnd.
»Dies«, sagte Galahad, »ist das Schwert Balmung, das Wieland der Schmied in grauer Vorzeit schuf. Sein Gegenstück heißt Flamberge. Wer es trägt, kann im Krieg nicht besiegt, in der Schlacht nicht geschlagen werden. Wer es trägt, ist jeder Feigheit oder schändlicher Taten unfähig. Der Stein am Heft ist der Sardonyx Bircone, der seinen Besitzer vor vergiftetem Wein und verräterischen Freunden beschützt.«
Mrs. Whitaker betrachtete das Schwert. »Sicher ist es sehr scharf«, bemerkte sie schließlich.
»Es könnte ein herabfallendes Haar zerschneiden. Nein, es könnte gar einen Sonnenstrahl spalten«, sagte Galahad voller Stolz.
»Dann sollten Sie es vielleicht lieber wieder wegpacken«, meinte Mrs. Whitaker.
»Ihr wollt es nicht?« Galahad schien enttäuscht.
»Nein, vielen Dank.« Ihr kam in den Sinn, dass es ihrem seligen Henry bestimmt gefallen hätte. Er hätte es in seinem Arbeitszimmer an die Wand gehängt, gleich neben dem ausgestopften Karpfen, den er in Schottland gefangen hatte, und hätte es jedem Besucher gezeigt.
Galahad wickelte das Schwert Balmung wieder in seine geölte Lederhülle und verschnürte es mit einer weißen Kordel.
Dann saß er da, untröstlich.
Mrs. Whitaker machte ihm für den Heimweg ein paar Sandwiches mit Frischkäse und Gurke und wickelte sie in Wachspapier. Sie gab ihm auch einen Apfel für Grizzel. Er schien hocherfreut über ihre Gaben.
Zum Abschied winkte sie den beiden nach.
Am Nachmittag nahm sie den Bus, um Mrs. Perkins zu besuchen, die Ärmste, die immer noch mit ihrer Hüfte im Krankenhaus lag. Mrs. Whitaker brachte ihr selbst gemachtes Früchtebrot mit, auch wenn sie die Walnüsse weggelassen hatte, denn Mrs. Perkins Zähne waren auch nicht mehr das, was sie einmal gewesen waren.
Abends sah sie ein bisschen fern und ging früh schlafen.
Am Dienstag kam der Postbote. Mrs. Whitaker war auf dem Dachboden, um ein bisschen Ordnung zu schaffen, und da sie die Treppe langsam und vorsichtig, Stufe für Stufe hinabstieg, kam sie nicht rechtzeitig an die Tür. Der Postbote hatte ihr einen Zettel in den Briefkasten geworfen: Er habe versucht, ein Päckchen zuzustellen, aber es sei niemand daheim gewesen.
Mrs. Whitaker seufzte.
Sie steckte den Zettel in die Handtasche und machte sich auf den Weg zum Postamt.
Das Paket war von ihrer Nichte Shirelle, die in Sydney in Australien lebte. Es enthielt ein Foto von ihrem Mann Wallace und den beiden Töchtern, Dixie und Violet, und eine in Holzwolle verpackte Schneckenmuschel.
Mrs. Whitaker hatte eine Sammlung von Ziermuscheln im Schlafzimmer. Am meisten liebte sie die mit dem in Email aufgemalten Bild von den Bahamas. Das war ein Geschenk von ihrer Schwester Ethel gewesen, die 1983 gestorben war.
Sie steckte die Muschel und die Fotos in ihre Einkaufstasche. Und weil sie schon mal in der Nähe war, ging sie auf dem Heimweg beim Oxfam-Laden vorbei.
»Hallo, Mrs. Whitaker«, sagte Marie.
Mrs. Whitaker starrte sie an. Marie trug Lippenstift (vielleicht nicht gerade die glücklichste Farbe für sie, vielleicht nicht sehr fachmännisch aufgetragen, aber, dachte Mrs. Whitaker, das kommt schon mit der Zeit) und einen ziemlich schicken Rock. Eine enorme positive Veränderung.
»Oh, hallo, Marie«, antwortete Mrs. Whitaker.
»Letzte Woche war ein Mann hier und hat nach diesem Ding gefragt, das Sie gekauft haben. Diesem komischen kleinen Blechpokal. Ich hab ihm gesagt, wo Sie wohnen. War Ihnen doch recht, oder?«
»Sicher, Kind«, sagte Mrs. Whitaker. »Er hat mich auch gefunden.«
»Er war traumhaft. Wirklich, einfach traumhaft«, sagte Marie mit einem wehmütigen Seufzen. »Ich hätte auf der Stelle mit ihm gehen können. Und ein großes weißes Pferd hatte er auch«, schloss sie. Sie hielt sich auch gerader, stellte Mrs. Whitaker anerkennend fest.
Im Bücherregal fand Mrs. Whitaker einen neuen Mills-&-Boon-Roman – Ihre Majestätische Leidenschaft –, auch wenn sie die beiden von letzter Woche noch gar nicht ausgelesen hatte.
Sie nahm Romance and Legend of Chivalry zur Hand und schlug es auf. Es roch modrig. In roter Tinte stand säuberlich auf der ersten Seite: Ex. Libris Fisher.
Sie legte es wieder beiseite.
Als sie heimkam, wartete Galahad vor der Tür. Er ließ die Nachbarskinder auf Grizzel reiten, führte ihn am Zügel die Straße auf und ab.
»Ich bin froh, dass Sie da sind«, sagte sie. »Ich habe ein paar Kisten zu tragen.«
Sie führte ihn auf den Dachboden. Er räumte all die alten Koffer beiseite, sodass sie an den Schrank dahinter kam.
Es war furchtbar staubig dort oben.
Sie beschäftigte ihn fast den ganzen Nachmittag. Er rückte die schweren Gegenstände hin und her, während sie Staub wischte.
Galahad hatte eine Schnittwunde auf der Wange und ein Arm schien ein wenig steif zu sein.
Sie unterhielten sich ein bisschen, während sie sauber machte und aufräumte. Mrs. Whitaker erzählte ihm von ihrem seligen Henry und dass die Lebensversicherung gereicht hatte, um die restliche Hypothek zu zahlen, dass sie all diese Dinge besaß, aber so recht niemanden hatte, dem sie sie hinterlassen konnte, niemanden außer Ronald und seine Frau, die eigentlich nur moderne Sachen mochten. Sie erzählte ihm auch davon, wie sie Henry im Krieg kennen gelernt hatte, denn er war beim Zivilschutz und kontrollierte vor den Fliegerangriffen die Straßen und sie hatte das Küchenfenster nicht richtig verdunkelt. Und von den Tanzfesten in der Stadt und wie sie nach London gefahren waren, als der Krieg aus war, und sie zum ersten Mal in ihrem Leben Wein getrunken hatte.
Galahad erzählte Mrs. Whitaker von seiner Mutter Elaine, die flatterhaft und nicht immer tugendhaft und obendrein eine Hexe war, von seinem Großvater König Pelles, der es zwar immer gut meinte, meistens jedoch, gelinde gesagt, ein wenig abwesend wirkte, von seiner Jugend in der Festung Bliant auf der Insel der Seligkeit und von seinem Vater, den er als »Le Chevalier Mal Fet« kannte, der mehr oder weniger vollkommen von Sinnen war und der in Wirklichkeit Lancelot du Lac hieß, einst der größte aller Ritter war und nun, seines Verstandes beraubt, im Verborgenen lebte. Und Galahad erzählte von seinen Tagen als Knappe am Hof in Camelot.
Um fünf begutachtete Mrs. Whitaker die Dachkammer und verkündete, sie sei zufrieden. Dann öffnete sie das Fenster, um den Raum zu lüften, und sie gingen hinunter in die Küche, wo sie den Kessel aufstellte.
Galahad setzte sich an den Küchentisch.
Er öffnete den Lederbeutel, den er am Gürtel trug, und entnahm ihm einen etwa faustgroßen weißen Stein.
»Hohe Frau«, sagte er. »Dies ist für Euch, wenn Ihr mir den Sangrail überlasst.«
Mrs. Whitaker nahm den Stein in die Hand. Er wog schwerer, als er aussah. Sie hielt ihn gegen das Licht. Er war milchig, aber durchsichtig, und tief in seinem Innern flimmerten und glitzerten winzige Silberflöckchen in der Spätnachmittagssonne. Er fühlte sich warm an.
Und dann überkam sie auf einmal ein eigentümliches Gefühl, während sie ihn in der Hand hielt: Ganz tief in ihrem Innern verspürte sie eine wohlige Ruhe, eine Art Frieden. Heiterkeit, das war das richtige Wort. Sie fühlte sich heiter.