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Ich drehte mich um. Der Troll war verschwunden und das Mädchen, das ich zu lieben geglaubt hatte, stand im Schatten unter der Brücke.

»Wir gehen nach Hause«, sagte ich ihr. »Komm.«

Auf dem ganzen Rückweg sprachen wir kein einziges Wort.

Sie verliebte sich in den Drummer der Punk-Band, die ich gründete, und viele Jahre später heiratete sie jemand anderen. Wir trafen uns einmal zufällig in einem Zug, lange nachdem sie geheiratet hatte, und sie fragte, ob ich mich an jenen Abend erinnere.

Ich sagte, ja.

»Ich hatte dich wirklich gern an diesem Abend, Jack«, sagte sie. »Ich dachte, du würdest mich küssen. Ich dachte, du würdest mich um eine Verabredung bitten. Ich hätte Ja gesagt. Wenn du gefragt hättest.«

»Aber das habe ich nicht.«

»Nein«, stimmte sie zu. Sie trug die Haare ganz kurz geschnitten. Es stand ihr nicht.

Ich habe sie nie wiedergesehen. Diese adrette Frau mit dem verkniffenen Lächeln war nicht das Mädchen, das ich geliebt hatte, und die Begegnung hatte mir Unbehagen eingeflößt.

Ich zog nach London und ein paar Jahre später zog ich wieder zurück, aber die Stadt, in die ich heimkehrte, war nicht die, die ich in Erinnerung hatte: Es gab keine Felder, keine Farmen und keine schmalen Schotterwege, also zog ich sobald wie möglich wieder fort, in ein winziges Dorf zehn Meilen weiter.

Ich zog mit meiner Familie – inzwischen hatte ich eine Frau und einen kleinen Sohn – in ein altes Haus, das vor vielen Jahren einmal ein Bahnhof gewesen war. Die Schienen waren längst entfernt worden und das alte Ehepaar von gegenüber züchtete auf der einstigen Trasse Gemüse.

Ich wurde älter. Eines Tage entdeckte ich ein graues Haar, ein andermal hörte ich eine Aufnahme meiner Stimme und erkannte, dass ich mich genau wie mein Vater anhörte.

Ich arbeitete in London, wo ich für eine der großen Plattenfirmen Nachwuchstalente auftat und produzierte. Ich fuhr morgens mit dem Zug hin und kam manchmal abends heim.

Ich hatte mir eine kleine Wohnung in London genommen, denn es ist schwierig, ein geregeltes Pendlerdasein zu führen, wenn die Bands, die man unter die Lupe nehmen will, nicht vor Mitternacht auf die Bühne torkeln. Es bedeutete außerdem, dass es relativ einfach war rumzuvögeln, wenn mir der Sinn danach stand, was meistens der Fall war.

Ich glaubte, Eleanora – das war der Name meiner Frau, den ich wohl schon eher hätte erwähnen sollen – wisse nichts von den anderen Frauen, aber als ich an einem Wintertag von einer zweiwöchigen New-York-Tour zurückkam, fand ich mein Haus kalt und leer.

Sie hatte mir einen Brief hinterlassen, nicht nur einen Zettel. Fünfzehn säuberlich getippte Seiten und jedes einzelne Wort war wahr. Du liebst mich überhaupt nicht. Und das hast du nie getan.

Ich war erschüttert, fühlte mich wie betäubt. Ich zog einen dicken Mantel über, verließ das Haus und stiefelte los.

Es lag kein Schnee, aber der Boden war hart gefroren und das Laub knisterte unter meinen Schuhen. Die Bäume standen wie schwarze Skelette vor dem strengen grauen Winterhimmel.

Ich lief am Straßenrand entlang. Autos fuhren an mir vorbei auf dem Weg von und nach London. Irgendwann trat ich auf einen Ast, der in einem Laubhaufen versteckt gelegen hatte. Er riss das Hosenbein auf und verletzte die Haut darunter.

Schließlich erreichte ich das nächste Dorf. Ein Bach verlief im rechten Winkel zur Straße, am Ufer führte ein Pfad entlang, den ich nie zuvor gesehen hatte. Ich schlug diesen Weg ein und starrte auf das teilweise zugefrorene Flüsschen hinaus. Es gluckerte und plätscherte und sang.

Der Pfad führte auf die Felder hinaus. Er war grasbewachsen und schnurgerade.

Am Wegesrand fand ich einen halb von Erde bedeckten Stein, hob ihn auf und wischte die Krumen ab. Es war ein Klumpen aus irgendeiner geschmolzenen, purpurnen Substanz und hatte einen eigenartigen Regenbogenschimmer. Ich steckte ihn in die Manteltasche und hielt ihn in der Hand, während ich weiterging. Er fühlte sich warm und beruhigend an.

Der Fluss machte eine Biegung und verschwand zwischen den Feldern. Ich ging weiter durch die Stille.

Ich war vielleicht eine Stunde gelaufen, ehe ich die ersten Häuser sah; neu und klein und kastenartig standen sie oben an der Böschung.

Und dann entdeckte ich die Brücke und wusste, wo ich mich befand: Ich befand mich auf der alten Bahntrasse, war dieses Mal aus der anderen Richtung gekommen.

Graffiti waren auf die Brückenmauer geschmiert: Fuck und Barry liebt Susan und das allgegenwärtige NF der Nationalen Front.

Ich stand unterhalb des roten Backsteinbogens der Brücke inmitten all der Eisverpackungen und Chipstüten und dem einsamen, traurigen gebrauchten Kondom und sah zu, wie mein Atem weiße Dampfwolken in der kalten Nachmittagsluft bildete.

Das Blut an meinem Hosenbein war getrocknet.

Über mir brausten Autos über die Brücke, aus einem hörte ich laute Musik dröhnen.

»Hallo?«, sagte ich leise, verlegen, ich kam mir idiotisch vor. »Hallo?«

Ich bekam keine Antwort. Der Wind ließ die Chipstüten und das Laub rascheln.

»Ich bin zurückgekommen. Wie ich gesagt habe. Hallo?«

Stille.

Dann fing ich an zu weinen, wortlos, sinnlos schluchzte ich unter der Brücke.

Eine Hand berührte mein Gesicht und ich sah auf.

»Ich hätte nicht gedacht, dass du zurückkommst«, sagte der Troll.

Er war jetzt nicht mehr größer als ich, aber davon abgesehen unverändert. Das lange Gonkhaar wirkte ungepflegt. Ein paar Blätter hingen darin. Die großen Augen waren voller Einsamkeit.

Ich zuckte mit den Schultern und wischte mir mit dem Ärmel übers Gesicht. »Ich bin zurückgekommen.«

Drei Kinder überquerten die Brücke über uns, schreiend und rennend.

»Ich bin ein Troll«, sagte der Troll mit leiser, furchtsamer Stimme. »Fol rol de ol rol.«

Er zitterte.

Ich streckte die Hand aus, nahm seine riesige, klauenbewehrte Pranke und lächelte ihn an. »Es ist in Ordnung«, sagte ich ihm. »Wirklich. Es ist schon in Ordnung.«

Der Troll nickte.

Er drückte mich zu Boden zwischen die Blätter und Chipstüten und das Kondom und legte sich auf mich. Dann hob er den Kopf, öffnete sein Maul und fraß mit seinen großen starken Zähnen mein Leben auf.

Als er fertig war, stand der Troll auf und klopfte sich die Kleidung ab. Er steckte die Hand in seine Manteltasche und zog einen blasigen, verbrannte Steinklumpen hervor.

Den reichte er mir.

»Das ist deiner«, sagte der Troll.

Ich sah ihn an. Er hatte mein Leben mühelos übergestreift, schien es vertraut und angenehm zu finden, als trage er es seit Jahren. Ich nahm den Schlackeklumpen aus seiner Hand und schnupperte daran. Ich konnte den Zug riechen, von dem er vor so langer Zeit herabgefallen war. Ich hielt ihn fest in meiner behaarten Pranke.

»Danke«, sagte ich.

»Viel Glück«, erwiderte der Troll.

»Tja. Dir auch. Also dann …«

Der Troll grinste mit meinem Gesicht.

Er drehte mir den Rücken zu und schlug die Richtung ein, aus der ich gekommen war, zurück zum Dorf, zu dem leeren Haus, das ich an diesem Morgen verlassen hatte, und er pfiff vor sich hin, während er ging.

Seitdem bin ich hier. Verstecke mich. Bin ein Teil der Brücke.

Aus dem Schatten beobachte ich die Menschen, die vorbeikommen: ihre Hunde ausführen oder reden oder eben die Dinge machen, die Menschen so tun. Manche bleiben unter meiner Brücke stehen, um zu pinkeln oder sich zu lieben. Und ich beobachte sie, aber ich sage nie ein Wort und sie bemerken mich nicht.

Fol rol de ol rol.

Ich werde ganz einfach hier bleiben in der Dunkelheit unter dem Brückenbogen. Ich kann euch alle da draußen hören, trippel-trappel, trippel-trappel auf meiner Brücke.

O ja, ich höre euch.