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Fünf höllische Tage lang war Ben von Dorf zu Dorf gezogen, hatte süßen Tee und Pulverkaffee in billigen Schnellrestaurants getrunken und auf die raue, graue Felsenküste und das schieferfarbene Meer hinausgestarrt. Selbst in seinen zwei dicken Pullovern hatte er gefroren, er wurde nass und hatte nicht eine der versprochenen Sehenswürdigkeiten gefunden.

An einem Abend hatte er seinen Schlafsack im Wartehäuschen einer Bushaltestelle ausgerollt und begonnen, beschreibende Schlüsselwörter zu übersetzen: charmant hieß nichts sagend, entschied er; malerisch bedeutete hässlich, aber mit hübschem Ausblick, wenn der Regen je nachlässt und reizend hieß vermutlich so viel wie: Wir waren nie dort und kennen auch niemanden, der es gesehen hat. Darüber hinaus war er zu dem Schluss gekommen, dass ein Dorf umso langweiliger war, je exotischer der Name klang.

So kam es, dass Ben Lassiter am fünften Tag etwas nördlich von Bootle zu dem Dorf Innsmouth kam, das in seinem Reiseführer weder als charmant, malerisch oder reizend bezeichnet wurde. Weder der rostige Pier wurde beschrieben noch die Berge verrotteter Hummerfallen auf dem Kiesstrand.

Gleich an der Uferstraße lagen drei Bed-and-Breakfasts nebeneinander: Sea View, Mon Repose und Shub Niggeruth. Ein jedes hatte ein ausgeschaltetes Neonschild Zimmer frei im Fenster hängen und an jeder der drei Türen war mit Heftzwecken ein Zettel befestigt: Von Oktober bis März geschlossen.

Es gab keine Restaurants oder Cafés an der Uferstraße. In der Glastür des einsamen Fish-and-Chips-Ladens hing ein Schild: Geschlossen. Ben postierte sich vor dem Laden und wartete auf die Öffnungszeit, während das graue Nachmittagslicht langsam in die Dämmerung überging. Endlich kam eine kleine, etwas froschgesichtige Frau die Straße hinab und schloss die Ladentür auf. Ben fragte sie, wann der Laden öffne, und sie sah ihn verwirrt an und erwiderte: »Es ist Montag, mein Junge. Montags ist Ruhetag.« Dann betrat sie ihre Fish-and-Chips-Bude, verriegelte die Tür und ließ Ben kalt und hungrig draußen stehen.

Ben war in einer trockenen Stadt in Nordtexas aufgewachsen. Wasser gab es dort nur in Swimmingpools und die einzig bekannte Art der Fortbewegung war die in klimatisierten Pick-ups. So hatte ihn die Vorstellung gereizt, durch eine Küstenlandschaft zu wandern, obendrein in einem Land, wo man so etwas wie Englisch sprach. Bens Heimatstadt war im doppelten Sinne trocken: Voller Stolz pochte man dort darauf, dass der Alkohol in dieser Stadt schon dreißig Jahre bevor der Rest von Amerika die Prohibition ausrief, verboten worden und auch nach deren Ende nie wieder zugelassen worden sei. So war alles, was Ben über Pubs wusste, dass es Orte der Sünde waren, so ähnlich wie Bars, nur mit hübscheren Namen. Doch die Autorin von Eine Wanderung entlang der britischen Küsten deutete an, dass man im Pub Lokalkolorit und örtliche Neuigkeiten finden konnte, dass man »eine Runde geben« musste und dass es in manchen Pubs auch etwas zu essen gab.

Der Pub von Innsmouth hieß The Book of Dead Names und das Schild über der Tür setzte Ben davon in Kenntnis, dass der Eigentümer ein gewisser A. Al-Hazred war, der eine amtliche Lizenz zum Ausschank von Wein und Spirituosen besaß. Ben überlegte, ob der Name bedeutete, dass es hier indisches Essen gab. Das hatte er in Bootle kennen gelernt und ziemlich gern gemocht. Er hielt kurz bei den Schildern, die den Weg zur Public Bar und zur Saloon Bar wiesen, und fragte sich, ob eine Public Bar in England vielleicht privat sei, so wie eine Public School. Schließlich entschied er sich für die Saloon Bar, weil sich das nach einem Western anhörte.

Der Raum war beinah völlig verlassen. Es roch nach dem verschütteten Bier der letzten Woche und dem abgestandenen Zigarettenqualm von vorgestern. Hinter der Bar stand eine pummelige Frau mit blond gefärbten Haaren. In einer Ecke saßen zwei Männer in langen grauen Regenmänteln und Schals. Sie spielten Domino und tranken ein dunkelbraunes, schaumgekröntes bierartiges Gebräu aus gläsernen Wabenmusterkrügen.

Ben trat an die Bar. »Gibt es hier etwas zu essen?«

Die Kellnerin kratzte sich einen Moment an der Nase, dann räumte sie brummend ein, sie könne ihm wohl ein Ploughman’s machen.

Ben hatte nicht die geringste Ahnung, worum es sich dabei handeln mochte, und wünschte sich zum hundertsten Mal, Eine Wanderung entlang der britischen Küsten enthielte so etwas wie einen britisch-amerikanischen Sprachführer. »Ist das was zu essen?«, fragte er.

Sie nickte.

»Okay. Dann hätte ich das gern.«

»Und zu trinken?«

»Cola, bitte.«

»Haben wir nicht.«

»Dann Pepsi.«

»Pepsi haben wir auch nicht.«

»Was denn? Sprite? 7UP? Fanta?«

Sie schien noch verwirrter als zuvor. Dann sagte sie: »Ich glaub, wir haben hinten noch ein, zwei Flaschen Kirschlimo.«

»In Ordnung.«

»Das macht dann fünf Pfund zwanzig und ich bring Ihnen das Ploughman’s, wenn es fertig ist.«

Ben setzte sich an einen kleinen, etwas klebrigen Holztisch, trank ein sprudelndes Zeug, das leuchtend rot war und ebenso chemisch schmeckte, wie es aussah, und entschied, dass ein Ploughman’s vermutlich irgendeine Art Steak war. Ihm war durchaus bewusst, dass dieser Schluss von Wunschdenken beeinflusst war. Er stellte sich Pflüger in der ländlichen Idylle vergangener Tage vor, die bei Sonnenuntergang ihre fetten Ochsen von den frisch gepflügten Feldern führten, weil er inzwischen mit Freuden und nur ein bisschen fremder Hilfe einen ganzen Ochsen hätte vertilgen können.

»Hier, bitte. Ihr Ploughman’s«, sagte die Kellnerin und stellte einen Teller vor ihn.

Dieses Ploughman’s war eine herbe Enttäuschung: ein rechteckiges Stück eines scharf schmeckenden Käses, ein Salatblatt, eine unterentwickelte Tomate mit einem Daumenabdruck darauf, ein Häuflein einer breiartigen braunen Masse, die wie saure Marmelade schmeckte, und eine kleine, harte, altbackene Semmel. Ben war schon vorher zu der Erkenntnis gekommen, dass die Briten Essen offenbar als eine Art Strafe betrieben. Mühsam kaute er auf dem Käse und Salatblatt und verfluchte jeden Pflüger in England, der sich mit so einem Schweinefraß zufrieden gab.

Die Männer in den grauen Regenmänteln, die in der Ecke saßen, beendeten ihr Dominospiel, brachten ihre Gläser zu Ben herüber und setzten sich zu ihm. »Was trinken Sie da?«, fragte einer von ihnen neugierig.

»Es heißt Kirschlimonade«, erklärte er. »Es schmeckt, als komme es aus einer Chemiefabrik.«

»Interessant, dass Sie das sagen«, erwiderte der kleinere der Männer. »Wirklich interessant, dass Sie das sagen. Weil ich hatte nämlich mal einen Freund, der in einer Chemiefabrik gearbeitet hat, und der hat nie Kirschlimonade getrunken.« Er legte eine dramatische Pause ein und nippte dann an seinem braunen Gesöff. Ben wartete, dass er fortfuhr, aber offenbar kam nichts mehr. Die Konversation war versiegt.

Ben bemühte sich, höflich zu wirken, und fragte deshalb: »Und was trinken Sie da?«

Der größere der beiden Fremden, der trübsinnig vor sich hin gestarrt hatte, schien plötzlich deutlich fröhlicher. »Das ist aber wirklich furchtbar freundlich von Ihnen. Für mich ein Shoggoth’s Old Peculiar, bitte.«

»Für mich auch«, sagte sein Freund. »Ich könnt ein Shoggoth’s so runterschütten. He, ich wette, das wär ein guter Werbeslogan. ›Ich könnte ein Shoggoth’s so runterschütten‹. Ich sollte mal hinschreiben und es vorschlagen. Die wären bestimmt froh.«