1969 sah ich Charlotte wieder. Ich hatte die Hoffnung längst aufgegeben und dachte, ich hätte vergessen, wie sie aussah. Dann kam eines Tages der Geschäftsführer der Agentur und legte ein Penthouse vor mir auf den Tisch. Wir hatten eine Zigarettenwerbung darin platziert, die ihm ausnehmend gut gefiel. Ich war dreiundzwanzig und mächtig im Aufwind, leitete die künstlerische Abteilung, so als wisse ich, was ich tat, und manchmal war das sogar der Fall.
Ich kann mich an die Ausgabe kaum erinnern. Nur an Charlotte. Die Haare wild und sandfarben wie eine Löwenmähne, die Augen provokativ und sie lächelte, als kenne sie alle Geheimnisse des Lebens, wolle sie aber in ihrer unbekleideten Brust verschlossen halten. Sie hieß nicht mehr Charlotte, sondern Melanie oder so. Im Text stand, sie sei neunzehn.
Ich lebte zu der Zeit mit einer Tänzerin namens Rachel zusammen in einer Wohnung in Camden Town. Rachel war die hübscheste, wunderbarste Frau, die ich je gekannt habe. Und ich ging an diesem Tag früher als sonst nach Hause, die Bilder von Charlotte in meinem Aktenkoffer, schloss mich im Bad ein und wichste, bis mir die Sinne schwanden.
Kurz darauf trennten wir uns, ich und Rachel.
Die Werbeagentur boomte – alles boomte in den Sechzigern – und 1971 bekam ich den Auftrag, »Das Gesicht« für eine Modefirma zu finden. Sie wollten eine Frau, die alles Sexuelle verkörperte, die ihre Produkte trug, als wolle sie im nächsten Moment die Arme heben und sie sich vom Leibe reißen – wenn ihr nicht irgendein Mann zuvorkam. Und ich wusste die perfekte Lösung: Charlotte.
Ich rief bei Penthouse an. Niemand dort verstand, wovon ich sprach, aber schließlich verwiesen sie mich unwillig an die beiden Fotografen, die die Aufnahmen von ihr gemacht hatten. Die Leute vom Penthouse schienen mir nicht so recht zu glauben, als ich sagte, es sei beide Male dasselbe Mädchen gewesen.
Ich wandte mich an die Fotografen in der Hoffnung, den Namen ihrer Agentur zu erfahren.
Sie sagten mir, die Frau gebe es nicht.
Jedenfalls nicht in der Form, dass man ihrer irgendwie habhaft werden könne. Sicher, beide wussten sofort, welches Mädchen ich meinte. Aber, wie einer mir versicherte, es war »verdammt seltsam«. Sie war zu ihnen gekommen. Sie hatten ihr ein Honorar bezahlt und die Bilder verkauft. Nein, sie hatten ihre Adresse nicht.
Ich war sechsundzwanzig und kein Idiot. Ich kapierte sofort, was hier gespielt wurde: die wollten mich an der Nase herumführen. Vermutlich hatte irgendeine andere Agentur sie unter Vertrag genommen, plante eine große Kampagne mit ihr und bezahlte die Fotografen, damit sie nichts ausplauderten. Ich fluchte und beschimpfte sie am Telefon. Ich machte unhaltbare finanzielle Angebote.
Verpiss dich, sagten sie mir.
Und im Monat darauf war sie wieder im Penthouse. Es war längst kein psychedelisches Spannerblättchen mehr, sondern hatte mehr Klasse. Den Mädchen waren Schamhaare gewachsen und in ihren Augen lag ein männerhungriges Glitzern. Weichzeichnerfotos zeigten Männer und Frauen eng umschlungen in Kornfeldern – rosa Fleisch vor goldfarbenem Hintergrund.
Ihr Name, sagte die Bildunterschrift, sei Belinda. Sie war Antiquitätenhändlerin. Es war Charlotte, kein Zweifel, nur war ihr Haar jetzt dunkel und zu üppigen Löckchen aufgetürmt. Der Text nannte auch ihr Alter: neunzehn.
Ich rief meinen Kontakt beim Penthouse an und bekam den Namen des Fotografen: John Felbridge. Ich rief ihn an. Er behauptete genau wie die anderen, nichts über sie zu wissen, aber inzwischen hatte ich dazugelernt. Statt ihn durchs Telefon anzubrüllen, gab ich ihm einen Job, einen ziemlich lukrativen Auftrag: Werbeaufnahmen von einem kleinen Jungen, der ein Eis löffelte. Felbridge war langhaarig, Ende dreißig und trug einen mottenzerfressenen Pelzmantel und Turnschuhe ohne Schnürsenkel, aber er war ein guter Fotograf. Nach dem Shooting lud ich ihn auf ein Bier ein und wir redeten über das lausige Wetter, Fotografie, Dezimalwährung, seine Arbeit und Charlotte.
»Du hast also die Bilder im Penthouse gesehen, sagst du, ja?«, fragte Felbridge.
Ich nickte. Wir waren beide leicht angetrunken.
»Ich werd dir was erzählen über dieses Mädchen. Sie ist der Grund, warum ich mit dem Glamourzeug aufhören und ein anständiger Fotograf werden will. Sie sagte, ihr Name sei Belinda.«
»Wie hast du sie kennen gelernt?«
»Dazu komm ich ja gerade, okay? Ich dachte, sie wär von irgendeiner Agentur, verstehst du? Sie klopft an die Tür und ich denk heilige Scheiße! und bitte sie rein. Sie sagt, sie kommt von keiner Agentur, sondern sie verkauft …« Er runzelte verwirrt die Stirn. »Ist das nicht komisch? Ich habe vergessen, was sie verkauft. Vielleicht war es doch nicht Verkauf. Weiß nicht mehr. Demnächst vergess ich noch meinen eigenen Namen.
Ich wusste sofort, dass sie was Besonderes war. Ich frag sie, ob ich sie fotografieren darf, sag ihr, alles ist koscher, keine Hintergedanken, und sie war einverstanden. Klick! Fünf Filme in null Komma nichts. Kaum sind wir fertig, zieht sie ihre Klamotten wieder an und geht zur Tür. ›Was ist mit deinem Geld?‹, frag ich sie. ›Schick es mir‹, sagt sie und schon ist sie die Treppe runter und weg.«
»Also hast du ihre Adresse?«, fragte ich und versuchte, mein Interesse aus meiner Stimme herauszuhalten.
»Nein. Verdammter Mist. Ich hab das Geld beiseite gelegt, weil ich irgendwie hoffe, sie kommt noch mal wieder.«
Ich entsinne mich, dass mir außer meiner Enttäuschung die Frage in den Sinn kam, ob sein Cockney-Akzent echt oder eine Masche war.
»Aber worauf ich hinauswollte, war das: Als die Bilder zurückkamen, da wusste ich … na ja, was Titten und Ärsche anging, nein, was das Fotografieren von Frauen überhaupt anging, hatte ich alles geseh’n und erlebt. Sie war die Weiblichkeit, verstehst du? Und ich hatte sie fotografiert. Nein, nein, ich hol dir noch einen. Meine Runde. Bloody Mary, stimmt’s? Ich muss sagen, ich freu mich auf unsere zukünftige Zusammenarbeit …«
Es gab keine zukünftige Zusammenarbeit.
Die Agentur wurde von einer größeren, etablierteren Firma geschluckt, die unsere Umsätze wollte. Unsere Initialen wurden den ihren einverleibt und sie behielten ein paar von den guten Textern, aber der Rest von uns landete auf der Straße.
Ich ging zurück in meine Wohnung und wartete darauf, dass die Jobangebote zu strömen begannen, doch es tat sich nichts; aber eines Abends spät fing der Freund von der Freundin eines Freundes mich in einem Club an zu bequatschen (auf der Bühne spielte ein Typ, von dem ich nie gehört hatte. Sein Name war David Bowie. Er war wie ein Astronaut aufgemacht und der Rest seiner Band trug silberne Cowboyklamotten. Ich hörte nicht hin.) und ehe ich wusste, wie mir geschah, managte ich meine eigene Rockband, die Diamonds of Flame. Wenn du nicht zufällig Anfang der Siebziger in der Londoner Clubszene zu Hause warst, hast du nie von der Band gehört, aber sie war wirklich gut. Puristisch und lyrisch. Fünf Typen. Zwei von ihnen spielen heute in weltberühmten Supergruppen. Einer ist Klempner in Walsall; er schickt mir immer noch Weihnachtskarten. Die anderen beiden sind seit fünfzehn Jahren tot – anonyme Drogentote. Sie starben beide innerhalb einer Woche und die Band zerbrach daran.
Ich zerbrach um ein Haar auch daran. Ich stieg aus, wollte so weit weg von der Großstadt und diesem Leben wie nur möglich. Ich kaufte eine kleine Farm in Wales. Und da war ich glücklich mit meinen Schafen und Ziegen und Kohlköpfen. Ohne Penthouse und sie wäre ich wohl heute noch dort.
Ich habe keine Ahnung, woher es kam. Eines Morgens kam ich nach draußen und fand eine Zeitschrift im Hof. Sie lag mit dem Titelblatt nach unten im Morast. Die Ausgabe war fast ein Jahr alt. Charlotte war ohne Make-up und in einer anscheinend sehr exklusiven Wohnung abgelichtet. Zum ersten Mal konnte ich ihre Schamhaare sehen oder hätte sie sehen können, wäre das Foto nicht künstlich verschwommen, ein ganz klein wenig unscharf gewesen. Es sah aus, als käme sie aus dem Nebel.