»Stimmt«, sagte ich, ohne aufzusehen, »aber Bleak ist tot. Ich schmeiß den Laden jetzt.«
»Ich möchte für Sie Modell sitzen«, sagte sie.
Ich wandte mich um. Sie war etwa eins siebzig groß, hatte honigblondes Haar, olivgrüne Augen und ein Lächeln wie kühles Wasser in der Wüste.
»Charlotte?«
Sie neigte den Kopf zur Seite. »Wenn Sie wollen. Möchten Sie mich fotografieren?«
Ich nickte wie benommen. Stöpselte die Schirme ein, stellte sie vor eine nackte Mauer und machte zwei Polaroids als Test. Kein besonderes Make-up, kein Set, nur ein bisschen Licht, eine Hasselblad und das schönste Mädchen der Welt.
Nach ein paar Minuten fing sie an, sich auszuziehen. Ich hatte sie nicht darum gebeten. Ich kann mich nicht entsinnen, überhaupt irgendetwas zu ihr gesagt zu haben. Sie zog sich aus und ich fotografierte weiter.
Sie wusste Bescheid: Pose, Mimik, Blick, sie kannte das alles. Schweigend flirtete sie mit der Kamera und mit mir dahinter. Ich umrundete sie, machte eine Aufnahme nach der anderen. Ich kann mich nicht erinnern, je eine Pause eingelegt zu haben, aber zumindest für den Filmwechsel muss ich unterbrochen haben, denn ich hatte nachher sage und schreibe ein Dutzend Filme von ihr.
Ich nehme an, du glaubst, nachdem ich sie fotografiert habe, hätte ich sie geliebt. Na ja, ich wäre ein Lügner, wollte ich behaupten, ich hätte nie ein Model gevögelt. Oder manchmal war’s auch so, dass sie mich gevögelt haben. Aber sie habe ich nicht angerührt. Sie war mein Traum, und wenn man einen Traum berührt, verschwindet er wie eine Seifenblase.
Und ich konnte sie einfach nicht anfassen.
»Wie alt bist du?«, fragte ich, ehe sie ging, als sie ihren Mantel überzog und nach der Handtasche griff.
»Neunzehn«, antwortete sie, ohne mich anzusehen, und dann war sie verschwunden.
Sie hat nicht Auf Wiedersehen gesagt.
Ich schickte die Fotos an Penthouse. Etwas anderes fiel mir nicht ein. Zwei Tage später rief der Chefredakteur an. »Wunderbares Model! Das Gesicht der Achtziger und so weiter! Was können Sie mir über ihre Daten sagen?«
»Ihr Name ist Charlotte«, sagte ich ihm. »Sie ist neunzehn.«
Und jetzt bin ich neununddreißig und eines Tages werde ich fünfzig sein und sie wird neunzehn bleiben. Aber dann wird es ein anderer sein, der sie fotografiert.
Rachel, meine Tänzerin, hat schließlich einen Architekten geheiratet.
Die blonde Punkerin aus Kanada betreibt heute eine multinationale Modekette. Hin und wieder mache ich ein paar Shootings für sie. Ihre Haare sind jetzt kurz geschnitten und haben einen ersten Grauschimmer und sie ist unter die Lesben gegangen. Die Nerzbettwäsche hat sie immer noch, hat sie mir erzählt, aber den Vibrator aus Gold hatte sie erfunden.
Meine Exfrau hat einen netten Kerl geheiratet, dem zwei Videotheken gehören. Sie sind nach Slough gezogen und sie haben Zwillingssöhne.
Ich habe keine Ahnung, was aus dem Hausmädchen geworden ist.
Und Charlotte?
In Griechenland debattieren die Philosophen, Sokrates leert den Schierlingsbecher und sie steht Modell für eine Skulptur der Erato, Muse der leichten Poesie und der Liebenden. Und sie ist neunzehn.
In Kreta ölt sie ihre Brüste ein, betritt den Ring und springt über den Rücken eines Stieres, während König Minos ihr Beifall zollt, und irgendwer verewigt den Moment als Gemälde auf einer Vase. Und sie ist neunzehn.
Im Jahr 2065 liegt sie auf dem Drehboden im Studio eines Holofotografen, der sie als erotischen Traum in Living Sensolove aufnimmt, ihren Anblick, Laute, selbst ihren Geruch in einer winzigen Diamantmatrix bannt. Sie ist neunzehn.
Und ein Höhlenmensch malt Charlottes Umrisse mit einem angekohlten Stecken auf die Wand der Tempelhöhle und versucht mit Erd- und Beerenfarben, ihre Formen und den Schimmer ihrer Haut wiederzugeben. Neunzehn.
Charlotte ist immer da, an allen Orten, zu allen Zeiten. Gleitet durch unsere Wunschträume, ewig ein Mädchen.
Ich will sie so sehr, dass es manchmal wehtut. Dann nehme ich die Fotos von ihr aus dem Schrank und betrachte sie einfach eine Weile und frage mich, warum ich nicht versucht habe, sie zu berühren, warum ich nicht einmal mit ihr gesprochen hatte, als sie da war. Und nie gelange ich zu einer Antwort, die ich verstehen könnte.
Das ist wohl der Grund, warum ich all das hier aufgeschrieben habe.
Heute Morgen habe ich schon wieder ein graues Haar an meiner Schläfe entdeckt. Charlotte ist neunzehn. Irgendwo.
Nur mal wieder das Ende der Welt
Es war ein schlechter Tag. Ein Magenkrampf weckte mich. Ich lag in meinem Bett, nackt, und fühlte mich ziemlich schauderhaft. Irgendetwas an der Beschaffenheit des Lichts, langgezogen und metallisch, wie die Tönung einer Migräne, sagte mir, dass es Nachmittag war.
Das Zimmer war im wahrsten Sinn des Wortes eiskalt. Die Innenseite des Fensters war mit einer dünnen Eiskruste überzogen. Die Laken waren zerknüllt und wiesen lange Risse auf. Das Bett war voller Tierhaare. Es juckte.
Ich erwog, die ganze nächste Woche im Bett zu bleiben. Nach einer Verwandlung bin ich immer müde. Doch eine Welle der Übelkeit zwang mich, die zerfetzte Decke wegzustrampeln und hastig in das winzige Bad meiner Behausung zu stolpern.
Der Krampf setze wieder ein, als ich die Badezimmertür erreichte. Ich hielt mich am Türrahmen fest, während mir der Schweiß ausbrach. Vielleicht hatte ich Fieber. Ich hoffte nur, ich hatte mir nicht irgendwas eingefangen.
Der Krampf war ein scharfer Schmerz in meinen Eingeweiden und mir wurde schwindelig. Zusammengekrümmt fiel ich zu Boden und ehe ich den Kopf auf Toilettenhöhe heben konnte, fing ich an zu spucken.
Ich erbrach eine übel riechende, dünne gelbe Flüssigkeit. Darin fanden sich eine Hundepfote – ich tippte auf Dobermann, aber ich versteh mich nicht besonders auf Hunde –, ein Stück Tomatenhaut, gewürfelte Karotten, Mais, einige halb zerkaute rohe Fleischbrocken und ein paar Finger. Es waren ziemlich kleine, bleiche Finger, offenbar die eines Kindes.
»Scheiße.«
Die Krämpfe ließen nach und die Übelkeit verebbte. Ich lag auf dem Boden, stinkender Geifer lief mir aus Mund und Nase und die Tränen, die man weint, wenn man sich übergeben muss, trockneten auf meinen Wangen.
Als ich mich ein wenig besser fühlte, las ich die Pfote und die Finger aus der unappetitlichen Pfütze, warf sie in die Toilette und betätigte die Spülung.
Ich drehte den Wasserhahn auf, spülte mir mit dem salzigen Innsmouth-Wasser den Mund und spuckte es aus. Dann wischte ich das restliche Erbrochene so gut ich konnte mit Waschlappen und Toilettenpapier auf. Schließlich stellte ich das Wasser der Dusche an und stand in der Wanne wie ein Zombie, während das heiße Wasser an mir herablief.
Ich seifte mich ein, sowohl Körper als auch Haare. Der mickrige Schaum wurde grau, ich muss vollkommen verdreckt gewesen sein. Mein Haar war mit etwas verklebt, das sich wie getrocknetes Blut anfühlte, und ich bearbeitete es mit der Seife, bis alles weg war. Ich blieb unter der Dusche stehen, bis das Wasser eisig wurde.
Unter der Tür lag eine Nachricht von meiner Wirtin. Sie besagte, ich schulde ihr seit zwei Wochen die Miete. Sie besagte weiter, alle Antworten stünden im Buch der Offenbarung. Und ich habe ziemlichen Lärm gemacht, als ich in den frühen Morgenstunden heimgekommen sei. Sie wäre mir ausgesprochen dankbar, wenn ich in Zukunft etwas leiser sein könnte. Und sie besagte, wenn die Älteren Götter aus dem Meer aufstiegen, dann würden alle Ungläubigen, aller Abschaum dieser Erde, all das menschliche Treibgut, alle Taugenichtse und Schmarotzer hinweggefegt und die Welt werde gereinigt mit Eis und tiefem Wasser. Und schließlich wolle sie mich daran erinnern, dass sie mir bei meinem Einzug ein Fach im Kühlschrank zugewiesen habe, auf das ich mich in Zukunft doch bitte beschränken möge.