Ich zerknüllte den Zettel und warf ihn zu Boden. Er landete zwischen einer Big-Mac-Schachtel, einem leeren Pizzakarton und einem vertrockneten, schrumpeligen Stück Pizza.
Es wurde Zeit, zur Arbeit zu gehen.
Ich war seit zwei Wochen in Innsmouth und ich konnte es nicht leiden. Es roch fischig. Man fühlte sich eingepfercht in dieser kleinen Stadt: ein Sumpfgebiet im Osten, Klippen im Westen und in der Mitte ein Hafen mit ein paar halb verrotteten Fischerbooten. Nicht einmal bei Sonnenuntergang war es hier malerisch. Trotzdem waren die Yuppies in den Achtzigern nach Innsmouth gekommen und hatten die pittoresken Fischerhäuschen mit Blick auf den Hafen erworben. Seit ein paar Jahren waren die Yuppies verschwunden und die Häuschen an der Bucht lagen verlassen und verfielen.
Die Einwohner von Innsmouth lebten hier und da über die Stadt verteilt und in den Caravansiedlungen, die sie umringten; Reihe um Reihe vergammelter Wohnwagen, die niemals irgendwohin fuhren.
Ich zog mich an, stieg in meine Stiefel, streifte den Mantel über und verließ das Zimmer. Meine Wirtin war nirgends zu sehen. Sie war eine kleine, glupschäugige Frau, die wenig sprach, obwohl sie ausführliche schriftliche Mitteilungen für mich verfasste und an die Tür oder sonstwohin pappte, wo ich sie finden würde. Ständig war das Haus vom Geruch nach kochenden Meeresfrüchten erfüllt, denn riesige Töpfe köchelten unablässig auf ihrem Herd, gefüllt mit irgendwelchen Dingern, die zu viele Beine hatten, oder anderen, die überhaupt keine Beine hatten.
Es gab weitere Zimmer im Haus, aber niemand außer mir hatte eines gemietet. Niemand bei klarem Verstand würde im Winter nach Innsmouth kommen.
Vor dem Haus roch es nicht viel besser, doch wenigstens war es kälter. Mein Atem dampfte in der Seeluft. Der Schnee auf der Straße war verharscht und verdreckt und die Wolken verhießen weitere Schneefälle.
Ein kalter, salziger Wind wehte von der Bucht herüber. Die Möwen schrien kläglich. Ich fühlte mich beschissen. In meinem Büro war es sicher auch eiskalt. An der Ecke Marsh Street und Leng Avenue war eine Bar, The Opener, ein gedrungenes Bauwerk mit winzigen, dunklen Fenstern, an dem ich in den letzten vierzehn Tagen zwei Dutzend Mal vorbeigekommen war. Ich hatte es noch nie betreten, aber ich brauchte wirklich was zu trinken und vielleicht war es da ja wärmer. Ich drückte die Tür auf.
In der Bar war es tatsächlich warm. Ich stampfte, bis der Schnee von meinen Stiefeln fiel, dann trat ich ein. Der Schankraum war fast leer und roch nach alten Aschenbechern und schalem Bier. Zwei ältere Männer saßen an der Theke und spielten Schach. Der Barkeeper las eine alte, zerfledderte, in goldenes und grünes Leder gebundene Ausgabe der Gedichte von Alfred Lord Tennyson.
»Hey. Kann ich einen Jack Daniel’s bekommen? Pur, ohne Eis.«
»Sicher. Sie sind neu in der Stadt«, verkündete er, legte sein Buch aufgeschlagen auf die Theke und schenkte ein.
»Sieht man das?«
Er lächelte und reichte mir meinen Jack Daniel’s. Das Glas war schmutzig, hatte einen schmierigen Daumenabdruck an der Seite, aber ich zuckte die Schultern und kippte meinen Whiskey. Ich schmeckte so gut wie nichts.
»Ist das Ihr Katerfrühstück?«, fragte der Barkeeper, dessen fuchsrote Haare mit Pomade zurückgekämmt waren.
»Wenn Sie so wollen.«
»Manche Leute glauben, man könne einem Lykanthropen seine natürliche Gestalt zurückgeben, indem man ihm dankt, während er in Wolfsgestalt ist, oder ihn beim Namen ruft.«
»Ehrlich? Tja, vielen Dank.«
Ungebeten schenkte er mir nach. Er sah ein bisschen wie Peter Lorre aus, aber die meisten Leute in Innsmouth sehen ein bisschen wie Peter Lorre aus, meine Wirtin eingeschlossen.
Ich leerte mein Glas. Dieses Mal spürte ich den Whiskey bis in den Magen hinab brennen, so wie es sein sollte.
»So sagt man. Das heiß nicht, dass ich das glaube.«
»Was glauben sie denn?«
»Den Gürtel verbrennen.«
»Wie bitte?«
»Lykanthropen haben Gürtel aus menschlicher Haut, den sie bei ihrer ersten Transformation von ihren Herren in der Hölle bekommen. Man muss den Gürtel verbrennen.«
Einer der alten Schachspieler wandte sich zu mir um, seine riesigen Augen waren blind und hervorquellend. »Wenn man aus dem Pfotenabdruck eines Wargs Regenwasser trinkt, verwandelt man sich bei Vollmond in einen Wolf«, sagte er. »Das Einzige, was man tun kann, ist, den Wolf zu jagen, der den Abdruck hinterlassen hat, und seinen Kopf mit einer Klinge aus gediegenem Silber abtrennen.«
»Gediegen, ja?« Ich lächelte.
Sein Schachpartner, kahl und runzelig, schüttelte den Kopf und gab einen Quaklaut von sich. Dann bewegte er seine Königin und quakte noch einmal.
Leute wie ihn findet man überall in Innsmouth.
Ich bezahlte meine Drinks und ließ einen Dollar Trinkgeld auf der Theke liegen. Der Barkeeper las wieder in seinem Buch und würdigte den Schein keines Blickes.
Draußen fielen dicke weiße Schneeflocken, landeten wie nasse Küsse auf dem Gesicht und verklebten mir die Haare und Wimpern. Ich hasse Schnee. Ich hasse Neuengland. Ich hasse Innsmouth, es ist kein Ort, um allein zu sein. Aber wenn es überhaupt einen guten Ort gibt, um allein zu sein, habe ich ihn noch nicht gefunden. Wie dem auch sei, die Geschäfte zwangen mich seit mehr Monden, als ich zurückdenken wollte, in Bewegung zu bleiben. Geschäfte und andere Dinge.
Ich ging zwei Blocks die Marsh Street hinunter – wie ganz Innsmouth eine unansehnliche Mixtur aus amerikanischer Gotik des achtzehnten Jahrhunderts, hässlichen Sandsteinhäusern aus dem späten neunzehnten und grauen Fertigbaukästen des späten zwanzigsten Jahrhunderts – bis ich zu einer ehemaligen Hähnchenbude mit verbarrikadierten Fenstern gelangte. Ich ging die Steintreppe neben dem Laden hinauf und öffnete die rostende Sicherheitstür.
Auf der anderen Straßenseite war ein Spirituosenladen, eine Wahrsagerin residierte im ersten Stock darüber.
Jemand hatte mit schwarzem Marker Graffiti auf die Metalltür geschmiert: Krepier doch, stand da. Wenn das so einfach wäre.
Die Treppe war aus nacktem Holz, der fleckige Putz blätterte von den Wänden. Am oberen Treppenabsatz lag mein Büro, das nur aus einem einzigen Raum bestand.
Ich bleibe nie irgendwo lange genug, um meinen Namen in Messing an irgendwelchen Glastüren anzubringen; handgeschriebene Blockbuchstaben auf einem Stück Pappe an der Tür reichen völlig.
LAWRENCE TALBOT
REGULATOR
Ich schloss die Tür auf und trat ein.
Ich inspizierte mein Büro und Worte wie schäbig, runtergekommen und verwahrlost gingen mir durch den Kopf und gaben dann auf, weil sie hoffnungslos unzureichend waren. Es war wirklich nicht besonders einnehmend: ein Schreibtisch, ein Bürostuhl, ein leerer Aktenschrank, ein Fenster mit einem atemberaubenden Ausblick auf den Spirituosenladen und die verlassene Residenz der Wahrsagerin. Der Geruch nach altem Bratfett stieg von unten auf. Ich fragte mich, wie lange die Hähnchenbude wohl schon verrammelt war, und stellte mir ein Heer schwarzer Kakerlaken vor, das in der Dunkelheit unter mir herrschte.
»Dieses Bild, an das Sie da denken, beschreibt den Zustand der Welt«, sagte eine tiefe Stimme, so tief, dass ich sie in der Magengrube spürte.
In einer Ecke des Büros stand ein alter Sessel. Die Überreste eines Musters waren unter der Patina aus Alter und Fettschmiere schwach erkennbar. Der Sessel hatte die Farbe von Staub.
Der fette Mann, der mit fest geschlossenen Augen in dem Sessel saß, fuhr fort: »Voller Verwirrung betrachten wir unsere Welt, mit einem Gefühl der Unruhe. Wir halten uns für Gelehrte geheimer Liturgien, einzelne Männer gefangen in einer Welt, die sich unserem Einwirken entzieht. Doch die Wahrheit ist viel simpler: Es gibt Wesen in der Finsternis unter uns, die uns Übles wünschen.«