Sein Kopf fiel auf die Rückenlehne und seine Zungenspitze erschien in seinem Mundwinkel.
»Lesen Sie meine Gedanken?«
Der Mann im Sessel atmete tief und langsam. Es rasselte hinten in seiner Kehle. Er war wirklich unglaublich fett, hatte Stummelfinger wie farblose Würste. Er trug einen dicken alten Mantel, der wohl einmal schwarz gewesen, jetzt aber zu einem unbestimmten Grau verschossen war. Der Schnee an seinen Stiefeln war noch nicht ganz geschmolzen.
»Vielleicht. Das Ende der Welt ist ein seltsamer Begriff. Die Welt endet immerzu und immerzu wird das Ende abgewendet. Durch Liebe oder Trotteligkeit oder schlicht und einfach durch Glück.
Na ja. Jetzt ist es zu spät. Die Älteren Götter haben ihre Gefäße erkoren. Wenn der Mond aufgeht …«
Ein dünner Speichelfaden lief ihm aus dem Mund und rann silbrig zum Kragen hinab. Irgendetwas huschte aus dem Kragen in die Schattenwelt unter dem Mantel.
»Ja? Was passiert, wenn der Mond aufgeht?«
Der Mann im Sessel regte sich, öffnete zwei kleine Äuglein, rot und verquollen. Er blinzelte verschlafen.
»Ich habe geträumt, ich hätte eine Unzahl von Mündern«, sagte er, seine neue Stimme seltsam dünn und brüchig für einen so voluminösen Mann. »Ich träumte, jeder dieser Münder öffnete und schloss sich unabhängig von den anderen. Manche sprachen, manche flüsterten, andere aßen, wieder andere warteten schweigend.«
Er sah sich um, wischte den Speichel von seinen Lippen, setzte sich auf und blinzelte verwirrt. »Wer sind Sie?«
»Ich bin der Mann, der dieses Büro gemietet hat«, sagte ich ihm.
Er rülpste plötzlich laut. »Entschuldigung«, sagte er mit seinem dünnen Stimmchen und erhob sich schwerfällig aus dem Sessel. Im Stehen war er ein Stück kleiner als ich. Immer noch schlaftrunken sah er an mir hinab. »Silberkugeln«, verkündete er nach einem kurzen Schweigen. »Altmodische, aber verlässliche Methode.«
»Sicher. Das ist so was von offensichtlich … Vermutlich bin ich deswegen nicht drauf gekommen. Verdammt, ich könnt mich treten, ehrlich.«
»Sie machen sich über einen alten Mann lustig«, beklagte er sich.
»Nein, eigentlich nicht. Tut mir Leid. Und jetzt raus hier. Es gibt Leute, die haben zu arbeiten.«
Er schlurfte hinaus. Ich setzte mich auf den Drehstuhl hinter dem Schreibtisch und fand nach ein paar Minuten durch mehrfachen Selbstversuch heraus, dass man mitsamt der Sitzfläche zu Boden polterte, wenn man sich nach links drehte.
Also saß ich still und wartete, dass das staubige schwarze Telefon auf dem Schreibtisch klingelte, während das Licht am Winterhimmel langsam schwand.
Klingeling.
Eine Männerstimme: Hatte ich schon mal an Aluminiumblech gedacht? Ich legte auf.
Es gab keine Heizung im Büro. Ich fragte mich, wie lange der fette Mann wohl im Sessel geschlafen hatte.
Zwanzig Minuten später klingelte das Telefon erneut. Eine weinende Frau flehte mich an, ihr zu helfen, ihre fünfjährige Tochter zu finden, die seit vergangener Nacht vermisst wurde, offenbar aus ihrem Bettchen geraubt worden war. Der Hund der Familie war ebenfalls verschwunden.
Vermisste Kinder mache ich nicht, sagte ich ihr. Tut mir Leid, zu viele schlechte Erinnerungen. Ich hängte ein. Mir war wieder übel.
Es wurde jetzt dunkel und zum ersten Mal seit meiner Ankunft in Innsmouth flammte das Neonschild am Haus gegenüber auf und klärte mich auf, dass MADAME EZEKIEL dort residiere und TAROT UND HANDLESEN praktiziere.
Rotes Neonlicht ließ den rieselnden Schnee in der Farbe frischen Blutes schimmern.
Armageddon wird durch bedeutungslos erscheinende Taten abgewendet. So ist es eben. So war es immer schon.
Das Telefon läutete zum dritten Mal. Ich erkannte die Stimme; es war wieder der Aluminiumblechmann. »Wissen Sie«, begann er im Plauderton. »Transformation von Mensch zu Tier und wieder zurück ist per definitionem unmöglich. Also müssen wir nach anderen Erklärungen suchen. Depersonalisierung vermutlich. Und gleichzeitig eine Art Projektion. Hirnschaden? Vielleicht. Pseudoneurotische Schizophrenie? Lachhaft. Einige Fälle sind mit intravenöser Verabreichung von Thioridazinhydrochlorid behandelt worden.«
»Erfolgreich?«
Er kicherte. »Das gefällt mir. Ein Mann mit Humor. Ich bin sicher, wir können ins Geschäft kommen.«
»Ich sagte Ihnen schon, ich brauche kein Aluminiumblech.«
»Unsere Geschäfte erstrecken sich auf weit bemerkenswertere und bedeutungsvollere Bereiche. Sie sind neu in der Stadt, Mr. Talbot. Es wäre doch bedauerlich, wenn wir, wie soll ich sagen, uns in die Haare gerieten?«
»Sie können sagen, was immer Sie wollen, Kumpel. Für mich sind Sie nichts als eine weitere Regulierung, die darauf wartet, vorgenommen zu werden.«
»Wir bringen die Welt zu einem Ende, Mr. Talbot. Die Wesen der Tiefe werden aus ihrem feuchten Meeresgrab emporsteigen und den Mond verschlingen wie eine reife Pflaume.«
»Dann brauch ich mir ja nie wieder Sorgen um den Vollmond zu machen.«
»Kommen Sie uns ja nicht in die Quere«, drohte er, aber ich knurrte ihn an und das verschlug ihm die Sprache.
Draußen schneite es nach wie vor.
Am Fenster gegenüber stand im rubinroten Schimmer ihres Neonschilds die schönste Frau, die ich je gesehen hatte, und starrte mich an.
Sie winkte mit einem Finger.
Zum zweiten Mal an diesem Nachmittag beendete ich ein Telefonat mit dem Aluminiumblechmann, indem ich rüde auflegte, ging nach unten und überquerte die Straße fast im Laufschritt. Aber ich sah nach links und rechts, ehe ich auf die Straße trat.
Sie war ganz in Seide gekleidet. Der Raum war nur von Kerzen erleuchtet und es stank nach Weihrauch und Patchouli.
Sie lächelte mich an, als ich eintrat, und bedeutete mir, neben ihr am Fenster Platz zu nehmen. Sie spielte eine Art Patience mit ihren Tarotkarten. Als ich näher trat, fegte eine elegante Hand die Karten zusammen, schlug sie in ein Seidentuch und bettete sie liebevoll in ein Holzkästchen.
Vom schweren Duft im Raum setzte ein Hämmern in meinem Kopf ein. Ich hatte heute noch nichts gegessen, ging mir auf, vielleicht war das der Grund, warum mir ein wenig schwindelig wurde. Ich setzte mich ihr gegenüber an den Tisch und sah sie im schummrigen Kerzenlicht an.
Sie streckte die Hand aus und ergriff eine von meinen.
Sie sah auf die Handfläche hinab, berührte sie behutsam mit dem Zeigefinger.
»Haare?« Sie schien verwirrt.
»Tja. Ich bin ziemlich viel allein.« Ich grinste. Ich hatte gehofft, es wäre ein freundliches Grinsen, aber sie zog missbilligend eine Braue in die Höhe.
»Wenn ich Sie anschaue, ist es dies, was ich sehe«, begann Madame Ezekiel. »Ich sehe das Auge eines Mannes. Und ich sehe das Auge eines Wolfs. Im Auge des Mannes stehen Ehrlichkeit, Anständigkeit, Unschuld. Ich sehe einen aufrechten, rechtschaffenen Mann. Im Auge des Wolfs sehe ich Knurren und Drohen, nächtliches Heulen und Schreie, ich sehe ein Ungeheuer, das in der Finsternis, die die Stadt umgibt, jagt und blutiger Speichel fliegt von seinem Maul.«
»Wie können Sie Knurren und Schreie sehen?«
Sie lächelte. »Das ist nicht schwierig«, sagte sie. Ihr Akzent war nicht amerikanisch. Vielleicht russisch oder maltesisch oder ägyptisch. »Mit dem geistigen Auge sehen wir viele Dinge.«
Madame Ezekiel schloss die grünen Augen. Sie hatte erstaunlich lange Wimpern. Ihre Haut war blass und ihr schwarzes Haar war niemals still, es bewegte sich sacht um ihren Kopf in den seidenen Gewändern, als treibe es auf fernen Wellen.
»Es gibt eine traditionelle Lösung«, sagte sie mir. »Einen Weg, die böse Form abzuwaschen. Stellen Sie sich unter fließendes Wasser, klares Quellwasser und essen Sie weiße Rosenblätter dabei.«
»Und dann?«