»Die Form der Finsternis wird von Ihnen abgespült.«
»Beim nächsten Vollmond kommt sie wieder«, erklärte ich ihr.
»Darum müssen Sie, sobald das Böse von ihnen abgespült ist, unter dem fließenden Wasser ihre Pulsadern öffnen. Es wird natürlich furchtbar brennen. Doch der Fluss wird das Blut fortschwemmen.«
Sie war in Seide gehüllt, in Schals und Tücher in hundert verschiedenen Farben und alle waren selbst im dämmrigen Kerzenschein leuchtend und lebhaft.
Sie öffnete die Augen.
»Und jetzt das Tarot.« Sie wickelte die Karten aus dem schwarzen Seidenschal und gab sie mir. Ich fächerte sie, hob ab, mischte sie.
»Langsam. Nicht so schnell«, mahnte sie. »Geben Sie ihnen Zeit, sich an Sie zu gewöhnen. Sie sollen Sie lieben, wie … wie eine Frau Sie lieben würde.«
Ich umschloss die Karten fest mit der Hand, dann reichte ich sie ihr.
Sie deckte die erste Karte auf. Sie hieß Der Werwolf. Man sah Dunkelheit und Bernsteinaugen, ein weiß-rotes Lächeln.
Ihre grünen Augen zeigten Verwirrung. Die Farbe erinnerte an Smaragde. »Die Karte gehört nicht zu diesem Satz«, sagte sie und drehte die nächste um. »Was haben Sie mit meinen Karten gemacht?«
»Gar nichts, Ma’am. Ich habe sie nur gehalten. Das war alles.«
Die Karte, die sie aufgedeckt hatte, war Die Wesen der Tiefe. Sie zeigte etwas Grünes, Oktopusähnliches. Die Mäuler der Kreatur – wenn es denn wirklich Mäuler waren, keine Tentakel – fingen an, sich auf dem Bild zu regen und zu schlängeln, während ich hinschaute.
Sie verdeckte sie mit einer weiteren Karte, dann noch eine und noch eine. Sie waren alle blanko – völlig leer.
»Haben Sie das getan?« Es klang, als sei sie den Tränen nahe.
»Nein.«
»Gehen Sie.«
»Aber …«
»Gehen Sie.« Sie hielt den Blick gesenkt, als wolle sie sich einreden, dass ich nicht mehr existierte.
Ich stand auf, durchschritt den Raum, der nach Weihrauch und Kerzenwachs roch, und sah aus dem Fenster auf das Haus gegenüber. Ein Licht schimmerte kurz hinter meinem Bürofenster auf. Zwei Männer mit Taschenlampen gingen umher. Sie öffneten den leeren Aktenschrank, stöberten ein bisschen herum und bezogen dann Stellung, einer im Sessel, einer hinter der Tür, und erwarteten meine Rückkehr. Ich lächelte. Es war kalt und unwirtlich in meinem Büro und mit ein bisschen Glück würden sie stundenlang dort warten, bis ihnen aufging, dass ich nicht zurückkam.
Also verließ ich Madame Ezekiel, die am Tisch saß und jede einzelne ihrer Karten aufdeckte. Sie starrte darauf hinab, als könne sie die Bilder so zurückholen. Ich stieg die Treppe hinunter und ging die Marsh Street entlang, bis ich zur Bar zurückkam.
Jetzt waren keine Gäste mehr dort. Der Barkeeper rauchte eine Zigarette, die er ausdrückte, als ich eintrat.
»Wo sind die Schachfreunde?«
»Heute ist ihr großer Abend. Sie werden unten an der Bucht sein. Wie war das gleich wieder, Jack Daniel’s, richtig?«
»Klingt gut.«
Er schenkte mir ein. Ich erkannte den Daumenabdruck auf dem Glas vom letzten Mal wieder. Ich nahm den Band mit Tennyson-Gedichten von der Theke.
»Gutes Buch?«
Der fuchshaarige Barkeeper nahm mir den Band aus der Hand, schlug ihn auf und las:
»Jenseits der Wogen in oberer Tiefe
Weit unten im Abgrund der tosenden See
Weilt traumlos und doch so, als ob er schliefe
der Krake …«
Ich hatte ausgetrunken. »Und? Worauf wollen Sie hinaus?«
Er kam hinter der Bar hervor und führte mich zum Fenster: »Sehen Sie? Da draußen?«
Er zeigte nach Westen, auf die Klippen am Ortsrand. Während ich hinübersah, flammte oben auf den Felsen ein Feuer auf, leuchtete hell und brannte mit kupfergrünen Flammen.
»Sie werden die Wesen der Tiefe aufwecken«, sagte der Barkeeper. »Die Sterne und Planeten und der Mond sind alle in der richtigen Position. Es ist Zeit. Das trockene Land wird versinken, das Meer wird sich erheben …«
»Denn die Welt soll gereinigt werden durch Eis und Fluten und ich wäre dankbar, wenn Sie sich auf Ihr Fach im Kühlschrank beschränken«, fügte ich an.
»Wie bitte?«
»Gar nichts. Wie komme ich denn am schnellsten auf die Klippe?«
»Die Marsh Street hinauf. Dann halten Sie sich links hinter der Church of Dagon, bis Sie zum Manuxet Way kommen. Dann immer geradeaus.« Er holte seinen Mantel vom Haken hinter der Tür und zog ihn über. »Kommen Sie. Ich bring Sie hin. Den Spaß möchte ich um nichts in der Welt versäumen.«
»Sind Sie sicher?«
»Heute Abend wird sowieso niemand zum Trinken herkommen.« Wir traten ins Freie und er sperrte die Tür ab.
Es war kalt in den Straßen. Der frisch gefallene Schnee wurde in kleinen weißen Nebelbänken über den Boden geweht. Von der Straße aus konnte ich nicht erkennen, ob Madame Ezekiel noch in ihrem Salon über dem Neonschild weilte oder ob meine Besucher immer noch im Büro warteten.
Wir senkten die Köpfe gegen den Wind und stiefelten los.
Trotz des Brausens des Windes hörte ich den Barkeeper vor sich hin murmeln.
»Schlingt mit schleimigen Armen von nassem Grün«, zitierte er.
»Dort tobt er und wird ewig weiter toben
schlägt alles Seegetier, obgleich er schliefe,
bis einst die Glut des Weltgerichts versengt die Tiefe
Dann sollen Engel wie auch Sterbliche ihn sehen,
wenn er emporsteigt …«
Er brach ab und schweigend gingen wir weiter, während der aufgewirbelte Schnee uns wie Nadelstiche ins Gesicht traf.
Und elend verendet droben, dachte ich, sprach es aber nicht aus.
Nach zwanzig Minuten Fußweg hatten wir Innsmouth hinter uns gelassen. Als wir die Stadtgrenze passierten, hörte der Manuxet Way plötzlich auf und wurde zu einem schmalen Trampelpfad, teilweise mit Eis und Schnee bedeckt, und schlitternd und rutschend kämpften wir uns in der Dunkelheit die Anhöhe hinauf.
Der Mond war noch nicht aufgegangen, aber die Sterne kamen schon zum Vorschein. Es waren so viele. Wie Diamantstaub und zerstoßene Saphire waren sie über den Nachthimmel gestreut. Man sieht so unglaublich viele Sterne am Meer, viel mehr als irgendwo in der Stadt.
Oben auf der Klippe standen zwei Gestalten hinter dem Feuer, die eine riesig und fett, die zweite viel kleiner. Der Barkeeper ging hinüber und stellte sich neben sie, mir gegenüber.
»Sehet«, sagte er. »Der Opferwolf.« Plötzlich hatte seine Stimme etwas seltsam Vertrautes.
Ich sagte nichts. Das Feuer züngelte mit grünen Flammen und strahlte die drei von unten an; klassische Spukbeleuchtung.
»Wissen Sie, warum ich Sie hier heraufgebracht habe?«, fragte der Barkeeper und mir wurde klar, warum die Stimme mir bekannt vorkam. Es war die Stimme des Mannes, der versucht hatte, mir Aluminiumblech zu verkaufen.
»Um das Ende der Welt abzuwenden?«
Er lachte mich aus.
Die zweite Figur war der dicke Mann, den ich schlafend in meinem Büro angetroffen hatte. »Nun, wenn Sie es eschatologisch betrachten wollen …«, murmelte er mit einer so tiefen Stimme, dass sie Mauern zum Einsturz hätte bringen können. Seine Augen waren geschlossen. Er schlief fest.
Die dritte Gestalt war in Seide gehüllt und roch nach Patchouli. Sie hielt ein Messer in der Hand und schwieg.
»Heute Nacht«, begann der Barkeeper, »ist der Mond der Mond der Wesen der Tiefe. Heute Nacht stehen die Sterne in den Formen und Mustern der finsteren alten Tage. Heute Nacht werden sie kommen, wenn wir sie rufen. Wenn unser Opfer würdig ist. Wenn unser Rufen erhört wird.«
Der Mond ging auf der anderen Seite der Bucht auf, riesig, bernsteinfarben und prall und mit ihm erhob sich weit unter uns aus dem Meer ein Chor leise quakender Stimmen.