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Der Junge nickte.

Elric legte einen Finger unter Richards Kinn und zwang seinen Kopf hoch. Blutaugen, dachte Richard. Blutaugen.

Du bist kein Gefährte, Junge, sagte er in der Hochsprache von Melniboné.

Richard hatte immer gewusst, dass er die Hochsprache verstehen würde, wenn er sie je hören sollte, obwohl er in Latein und Französisch eher schwach war.

Aber was bin ich dann? fragte er. Bitte, sag es mir. Bitte.

Elric gab keine Antwort. Er ließ Richard stehen und ging davon, betrat den verfallenen Tempel.

Richard lief ihm nach.

Im Innern des Tempels fand Richard ein Leben, das auf ihn wartete, bereit, gelebt und getragen zu werden, und im Innern dieses Lebens verbarg sich wieder eines. Jedes Leben, das er anprobierte, verschlang ihn, zog ihn tiefer hinein, weiter fort von der Welt, aus der er gekommen war. Eines nach dem anderen, Existenz folgte Existenz, Traumflüsse und Sternenfelder, ein Falke, der einen Sperling in den Klauen hält, fliegt tief über dem Gras und dort warten kleine, komplizierte Geschöpfte darauf, dass er ihre Köpfe mit Leben füllt und tausende von Jahren vergehen und er hat eine seltsame Aufgabe von großer Wichtigkeit und klarer Schönheit zu erfüllen und er wird geliebt, er wird geehrt und dann ein Ziehen, ein energisches Zerren und es ist …

… es war, als tauche man vom Boden am tiefen Ende des Schwimmbeckens auf. Sterne erschienen über ihm und verblassten und lösten sich in Blau- und Grüntöne auf und mit einer Empfindung bitterer Enttäuschung wurde er wieder Richard Grey und kam zu sich, erfüllt von einem unbekannten Gefühl. Es war ein ganz bestimmtes Gefühl, so bestimmt, dass es ihn später überraschte, als er feststellte, dass es keinen eigenen Namen hatte: eine Mischung aus Verärgerung und Bedauern darüber, zu etwas zurückkehren zu müssen, das man für längst abgeschlossen und erledigt und vergessen und tot gehalten hat.

Richard lag auf der Erde und Lindfield zerrte an dem kleinen Krawattenknoten. Andere Jungen umstanden sie und die Gesichter, die auf ihn hinabstarrten, waren besorgt, bekümmert und angstvoll.

Lindfield löste den Knoten. Richard rang um Atem, sog begierig Luft in seine Lungen.

»Wir dachten, du markierst nur. Du bist einfach so umgefallen«, sagte irgendwer.

»Halt die Klappe«, fuhr Lindfield auf. »Alles in Ordnung? Es tut mir Leid. Es tut mir wirklich Leid. Lieber Himmel. Es tut mir so Leid.«

Einen Moment glaubte Richard, er entschuldige sich dafür, dass er ihn aus der Welt jenseits des Tempels zurückgerufen hatte.

Lindfield war furchtbar erschrocken, besorgt und völlig verängstigt. Während er Richard zum Büro der Hausmutter führte, erklärte er, als er von dem kleinen Laden auf dem Schulgelände zurückgekommen sei, habe er Richard besinnungslos auf dem Weg liegen sehen, umringt von einer Schar neugieriger Jungen, und sofort erkannt, was los war. Richard ruhte sich im Büro der Hausmutter ein bisschen aus und sie gab ihm eine bittere Aspirin-Tablette aus einem riesigen Glas, die sie in einem Plastikbecher mit Wasser auflöste. Anschließend wurde er zum Direktor bestellt.

»Gott, du siehst aber wirklich verlottert aus, Grey«, sagte der Schuldirektor und sog verstimmt an seiner Pfeife. »Man kann dem jungen Lindfield wirklich keinen Vorwurf machen. Außerdem hat er dir das Leben gerettet. Ich will kein weiteres Wort über die Angelegenheit hören.«

»Es tut mir Leid«, sagte Grey.

»Das ist alles«, sagte der Direktor und hüllte sich in eine Wolke aus wohlriechendem Rauch.

»Hast du dich inzwischen für eine Religion entschieden?«, fragte der Schulkaplan, Mr. Aliquid.

Richard schüttelte den Kopf. »Die Auswahl ist ziemlich groß«, gestand er.

Der Schulkaplan war auch Richards Biologielehrer. Vor kurzem hatte er Richards Biologiekurs, fünfzehn dreizehnjährige Jungen und Richard, gerade zwölf, mit zu sich nach Hause genommen. Er wohnte in einem kleinen Haus gegenüber der Schule. In seinem Garten hatte Mr. Aliquid mit einem kleinen scharfen Messer ein Kaninchen getötet, gehäutet und ausgenommen. Dann hatte er die Kaninchenblase mit einer Tretpumpe aufgeblasen wie einen Luftballon, bis sie schließlich platzte und die Jungen mit Blut bespritzte. Richard hatte sich übergeben, aber er war der Einzige.

»Hm«, sagte der Kaplan.

Die Wände seines Büros waren mit Büchern bedeckt. Es war eins der wenigen Lehrerzimmer, das auch nur halbwegs behaglich wirkte.

»Wie steht es mit Masturbation? Masturbierst du unverhältnismäßig viel?« Mr. Aliquids Augen leuchteten.

»Was verstehen Sie unter unverhältnismäßig viel?«

»Tja. Mehr als drei- oder viermal täglich, schätze ich.«

»Nein«, antwortete Richard. »Nicht unverhältnismäßig.«

Er war ein Jahr jünger als die anderen in seiner Klasse, viele Leute schienen das ständig zu vergessen.

Jedes Wochenende fuhr er nach Nord London zu seinen Cousins, mit denen er gemeinsam bar-mizwa-Unterricht erhielt. Ihr Lehrer war ein dürrer, asketischer Rabbiner, frummer als frum, Kabbalist und Hüter der verborgenen Mysterien, zu denen man ihn mit strategisch platzierten Fragen ablenken konnte. Richard war Experte im strategischen Platzieren von Fragen.

Frum bedeutete orthodox, strenggläubig jüdisch. Niemals Milch zusammen mit Fleisch verzehren und getrennte Spülmaschinen für das jeweils Milch und Fleisch zugeordnete Geschirr und Besteck.

Du sollst das Böcklein nicht kochen in der Milch seiner Mutter

Auch Richards Cousins in Nord London waren frum, doch heimlich kauften sie sich nach der Schule Cheeseburger und brüsteten sich voreinander dieser großen Heldentaten.

Richard hatte den Verdacht, dass sein Leib sowieso schon hoffnungslos vergiftet war. Allerdings gab es Speisen, wo auch er eine Grenze zog. Kaninchen, zum Beispiel. Er hatte jahrelang Kaninchen gegessen und verabscheut, ehe er dahinterkam, was es war. Jeden Donnerstag gab es zum Mittagessen in der Schule etwas, das er immer für miserables Hühnerfrikassee gehalten hatte. Als er aber eines Donnerstags eine Kaninchenpfote in der Pampe auf seinem Teller fand, fiel der Groschen. Seither aß er sich donnerstags an Brot und Butter satt.

Wenn er mit der UBahn nach Nord-London fuhr, ließ er den Blick immer über die Gesichter der anderen Fahrgäste schweifen und fragte sich, ob einer von ihnen wohl Michael Moorcock sei.

Wenn er Moorcock je traf, würde er ihn fragen, wie er zu der Tempelruine zurückgelangen konnte.

Wenn er Moorcock je traf, wäre er vermutlich viel zu verlegen, um zu sprechen.

Wenn seine Eltern abends nicht daheim waren, versuchte er manchmal, Michael Moorcock anzurufen.

Genauer gesagt rief er die Auskunft an und fragte nach Moorcocks Nummer.

»Die kann ich dir leider nicht geben, Kleiner. Das ist eine Geheimnummer.«

Er hatte gebettelt und jede bekannte Überredungstechnik versucht, doch zu seiner Erleichterung immer erfolglos. Er hätte nicht gewusst, was er Moorcock hätte sagen sollen.

Auf der ersten Seite seiner Moorcock-Bücher gab es immer eine Liste: »Von diesem Autor bereits erschienen«, und er machte Häkchen an die Titel, die er schon gelesen hatte.

In diesem Jahr schien es jede Woche einen neuen Moorcock zu geben. Er kaufte sie im Zeitungsladen an der Victoria-Station auf dem Weg zum bar-mizwa-Unterricht.

Doch ein paar konnte er einfach nicht finden – Der Seelendieb und Frühstück in den Ruinen – und schließlich bestellte er sie bei der Adresse, die hinten in den Büchern angegeben war, auch wenn ihn das ein wenig nervös machte. Er überredete seinen Vater, ihm den Scheck auszustellen, den man beifügen musste.