»Also Sie wissen es nicht?«
»Was von beiden es ist? Lieber Gott, nein. Ich werd nicht mal versuchen, es rauszufinden. Ich schicke Sie in eine Spezialklinik, die sich mit solchen Sachen befasst. Ich schreibe Ihnen eine Überweisung.« Er holte ein Formular aus der Schreibtischschublade. »Was machen Sie beruflich, Mr. Powers?«
»Ich arbeite bei einer Bank.«
»Kassierer?«
»Nein.« Er schüttelte den Kopf. »Sachbearbeiter in der Kreditsicherheitenabteilung.« Ihm kam ein Gedanke. »Bei der Bank muss doch keiner hiervon wissen, oder?«
Der Arzt wirkte entsetzt. »Um Himmels willen, nein.«
In einer säuberlichen, runden Handschrift stellte er die Überweisung aus, die besagte, dass Simon Powers, sechsundzwanzig Jahre alt, vermutlich an USU leide. Er habe Ausfluss. Habe angegeben, seit drei Jahren keinen Geschlechtsverkehr gehabt zu haben. Man möge ihn bitte über die Untersuchungsergebnisse in Kenntnis setzen. Er unterschrieb mit einem Schnörkel. Dann gab er Simon eine Karte mit Anschrift und Telefonnummer der Spezialklinik. »Hier. Da gehen Sie hin. Und machen Sie sich keine Gedanken, so was passiert vielen Leuten. Sehen Sie den Stapel Karten hier? Also, keine Sorge, bald sind Sie wieder ganz auf dem Posten. Rufen Sie dort an, wenn Sie nach Hause kommen, und machen einen Termin.«
Simon nahm die Karte und stand auf, um zu gehen.
»Keine Bange«, sagte der Doktor. »Es wird sicher nicht schwierig zu behandeln sein.«
Simon nickte und versuchte zu lächeln.
Er öffnete die Tür, um zu gehen.
»Und auf jeden Fall ist es nichts wirklich Tückisches, wie etwa Syphilis«, sagte der Arzt noch.
Zwei ältere Damen, die jetzt im Wartebereich im Korridor saßen, sahen hingerissen auf, als sie das hörten, und starrten Simon gierig an, der eilig zum Ausgang schritt.
Er wünschte, er wäre tot.
Als er draußen stand und auf seinen Bus wartete, dachte Simon: Ich habe eine Geschlechtskrankheit. Ich habe eine Geschlechtskrankheit. Ich habe eine Geschlechtskrankheit. Wieder und wieder, als sei es ein Mantra.
Fehlte nur noch, dass er im Gehen eine Glocke läutete.
Im Bus bemühte er sich, den anderen Fahrgästen nicht zu nahe zu kommen. Er war überzeugt, sie wussten es (sahen sie denn nicht das Pestzeichen auf seiner Stirn?), und gleichzeitig schämte er sich, dass er es vor ihnen geheim halten musste.
Als er nach Hause kam, ging er umgehend ins Bad. Er rechnete damit, ein halb verwestes Horrorfilmgesicht im Spiegel zu sehen, einen verrotteten, mit bläulichem Schimmelflaum überzogenen Totenschädel. Stattdessen erwiderte ein Bankangestellter mit rosa Wangen seinen Blick, Mitte zwanzig, blond, perfekte Haut.
Er holte seinen Penis aus der Hose und begutachtete ihn eingehend. Er war weder eitrig grün noch leprös weiß, sondern wirkte vollkommen normal bis auf die leicht geschwollene Eichel und den klaren Ausfluss, der die Öffnung benetzte. Er stellte fest, dass die Flüssigkeit seine weiße Unterhose befleckt hatte.
Simon spürte Wut in sich aufsteigen; Wut auf sich selbst, aber mehr noch auf Gott, weil er ihm einen (sag es) (Tripper verpasst hatte), der offenbar für jemand anderen gedacht gewesen war.
An diesem Abend masturbierte er zum ersten Mal seit vier Tagen.
Er stellte sich ein Schulmädchen in blauen Baumwollhöschen vor, das sich in eine Polizistin verwandelte, dann zwei Polizistinnen, dann drei.
Es tat überhaupt nicht weh bis zum Höhepunkt. Da fühlte es sich plötzlich an, als habe ihm jemand ein Springmesser in seinen Schwanz gestoßen. Als ejakuliere er ein Nadelkissen.
Da begann er zu weinen in der Dunkelheit, aber ob vor Schmerz oder aus anderen, schwieriger zu umreißenden Gründen, wusste nicht einmal Simon selbst.
Das war das letzte Mal, dass er masturbierte.
Ein finsteres viktorianisches Krankenhaus in Central London beherbergte die Klinik. Ein weiß bekittelter junger Mann inspizierte Simons Karte, nahm ihm die Überweisung ab und hieß ihn Platz nehmen.
Simon setzte sich auf einen orangefarbenen Plastikstuhl, der mit braunen Brandflecken übersät war.
Ein paar Minuten lang starrte er zu Boden. Als dessen Unterhaltungswert sich erschöpft hatte, glotzte er die Wände an und schließlich, als ihm nichts anderes mehr übrig blieb, die anderen Leute.
Sie waren alle männlichen Geschlechts, Gott sei Dank – Frauen waren eine Etage weiter oben – und es waren mehr als ein Dutzend.
Ganz entspannt schienen die Bauarbeitertypen, Machos, die zum siebzehnten oder siebzigsten Mal hier waren und sehr zufrieden mit sich wirkten, als sei, was immer sie sich eingefangen hatten, ein Beweis ihrer Potenz. Es gab auch ein paar Managertypen in Anzug und Krawatte. Einer war völlig gelassen. Er hatte ein Handy. Ein anderer versteckte seinen hoch roten Kopf hinter dem Daily Telegraph, offenbar sehr verlegen, dass er hier sein musste. Dann gab es ein paar kleine Männer mit dünnen Schnurrbärten und schäbigen Regenmänteln, Zeitungsverkäufer vielleicht oder Lehrer im Ruhestand; einen rundlichen malaiischen Herrn, Kettenraucher filterloser Zigaretten, der die nächste Zigarette immer mit dem Stummel der letzten anzündete, sodass die Flamme nie erlosch, sondern immer weitergetragen wurde. In einer Ecke saß ein verängstigtes schwules Paar. Keiner von beiden wirkte älter als achtzehn. Sie hatten offenbar heute auch ihren ersten Termin hier, so, wie sie sich verstohlen umblickten. Sie hielten diskret Händchen, die Knöchel schneeweiß. Sie hatten Todesangst.
Simon fühlte sich getröstet. Nicht mehr so allein.
»Mister Powers, bitte«, sagte der Mann an der Anmeldung. Simon stand auf. Ihm war nur zu bewusst, dass alle ihn anstarrten, dass er vor diesen Menschen beim Namen genannt und identifiziert worden war. Ein fröhlicher, rothaariger Arzt im weißen Kittel erwartete ihn.
»Folgen Sie mir.«
Sie gingen ein paar Flure entlang, durch eine Tür (auf einem weißen Papierschild, das mit Tesafilm befestigt war, stand mit schwarzem Filzstift geschrieben: Dr. J. Benham) ins Besprechungszimmer des Arztes.
»Ich bin Doktor Benham«, sagte er, ohne die Hand auszustrecken. »Sie haben eine Überweisung Ihres Hausarztes?«
»Die hab ich dem Mann an der Anmeldung gegeben.«
»Oh.« Dr. Benham öffnete den Aktendeckel auf dem Schreibtisch vor ihm. Ein computerbedruckter Aufkleber besagte:
Erstbehandl.: 2.7.1990. Männlich. 90/00666.L
Powers, Simon
geb.: 12.10.1963. Ledig
Benham las die Überweisung, besah sich Simons Penis und gab ihm ein blaues Blatt Papier aus der Akte. Es hatte den gleichen Aufkleber in der oberen Ecke.
»Nehmen Sie draußen auf dem Gang Platz«, wies er ihn an. »Eine Schwester wird Sie aufrufen.«
Simon wartete im Flur.
»Sie sind sehr empfindlich«, sagte ein sonnengebräunter Mann, der neben ihm saß, dem Akzent nach aus Südafrika oder vielleicht aus Simbabwe. Kolonialer Akzent jedenfalls.
»Wie bitte?«
»Sehr empfindlich. Geschlechtskrankheiten. Denken Sie mal drüber nach. Eine Erkältung oder Grippe können Sie kriegen, nur weil Sie in einem Raum mit jemandem zusammen sind, der es hat. Geschlechtskrankheiten hingegen brauchen Wärme und Feuchtigkeit und Intimkontakt.«
Meine nicht, dachte Simon, sagte aber nichts.
»Wissen Sie, wovor mir graut?«, fragte dann der Südafrikaner.
Simon schüttelte den Kopf.
»Es meiner Frau zu sagen«, sagte der Mann und danach schwieg er.
Eine Schwester kam und führte Simon fort. Sie war jung und hübsch und er folgte ihr in einen mit Vorhängen abgeteilten kleinen Raum. Sie nahm ihm das blaue Papier ab.