»Ziehen Sie das Jackett aus und krempeln Sie den rechten Ärmel auf.«
»Mein Jackett?«
Sie seufzte. »Für die Blutabnahme.«
»Oh.«
Die Blutabnahme war geradezu angenehm, verglichen mit dem, was folgte.
»Ziehen Sie die Hose aus«, wies sie ihn an. Sie hatte einen deutlichen australischen Akzent. Sein Penis war geschrumpft, hatte sich ganz in sich zurückgezogen. Er sah grau und runzelig aus. Simon verspürte den Drang, ihr zu sagen, dass er für gewöhnlich viel größer sei, doch dann nahm sie ein Metallinstrument mit einer Drahtschlinge am Ende in die Hand und er wünschte, sein Penis wäre noch viel kleiner. »Drücken Sie den Penis am Ansatz und schieben ein paar Mal aufwärts.« Das tat er. Sie steckte die Schlinge in die Öffnung und drehte sie hin und her. Er zuckte vor Schmerz zusammen. Sie streifte den Abstrich auf ein Glasplättchen. Dann wies sie auf ein Glasgefäß auf einem Regal. »Ich brauche eine Urinprobe. Können Sie mir das vollmachen, bitte?«
»Von hier aus?«
Sie verzog den Mund. Simon vermutete, dass sie den Scherz jeden Tag dreißigmal hörte, seit sie hier angefangen hatte.
Sie ging aus dem Behandlungszimmer und ließ ihn zum Pinkeln allein.
Auch unter günstigeren Bedingungen fand Simon es meist schwierig zu pinkeln und musste oft warten, bis alle Leute verschwunden waren. Er beneidete die Männer, die ganz locker in eine Herrentoilette spaziert kamen, den Reißverschluss aufzogen und sich fröhlich mit ihrem Nachbarn am nächsten Becken unterhielten, während ihr gelber Strahl auf weiße Keramik plätscherte. Oft konnte er gar nicht.
Er konnte auch jetzt nicht.
Die Schwester kam zurück. »Klappt’s nicht? Ist nicht schlimm. Nehmen Sie noch mal im Wartezimmer Platz, der Doktor ruft Sie gleich auf.«
»Nun«, sagte Dr. Benham. »Sie haben USU. Unspezifische Urethritis.«
Simon nickte und fragte dann: »Was bedeutet das?«
»Es bedeutet, dass Sie keine Gonorrhö haben, Mister Powers.«
»Aber ich hatte seit Ewigkeiten keinen Sex mit jemand anders, nicht seit …«
»Oh, das hat nichts zu bedeuten. Es kann ganz spontan auftreten, auch ohne dass Sie sich vorher … was Besonderes gegönnt haben.« Benham öffnete seinen Schreibtisch und holte ein Fläschchen mit Tabletten heraus. »Nehmen Sie viermal täglich eine hiervon vor den Mahlzeiten. Kein Alkohol, kein Sex und trinken sie zwei Stunden nach Einnahme der Tabletten keine Milch. Alles klar?«
Simon grinste nervös.
»Kommen Sie nächste Woche wieder. Unten wird man Ihnen einen Termin geben.«
Unten bekam er ein rotes Kärtchen mit seinem Namen und dem neuen Termin. Außerdem trug es die Nummer 90/00666.L.
Simon ging durch den Regen nach Hause. Am Schaufenster eines Reisebüros blieb er stehen. Das Poster zeigte einen sonnenbeschienenen Strand und drei braun gebrannte Frauen in Bikinis mit Longdrinks in den Händen.
Simon war noch nie im Ausland gewesen.
Die Vorstellung flößte ihm Angst ein.
Im Laufe der Woche klangen die Schmerzen ab und nach vier Tagen konnte Simon urinieren, ohne zusammenzuzucken.
Doch dafür passierte etwas anderes.
Es begann als winziger Samen, der in seinem Kopf keimte und zu wachsen begann. Beim nächsten Termin erzählte er Dr. Benham davon.
Der Arzt schien verwirrt.
»Sie sagen, Sie haben das Gefühl, Ihr Penis sei nicht mehr Ihrer, Mister Powers?«
»So ist es, Doktor.«
»Ich fürchte, da kann ich Ihnen nicht ganz folgen. Haben Sie dort ein Taubheitsgefühl? Hat die Sinneswahrnehmung der Haut nachgelassen?«
Simon konnte seinen Penis in der Hose fühlen, spürte Stoff auf Fleisch. In der Dunkelheit fing er an, sich zu regen.
»Keineswegs. Ich kann alles spüren so wie immer. Er fühlt sich nur … na ja, anders an, schätze ich. So als wäre er nicht mehr Teil von mir. Als ob …« Er unterbrach sich kurz. »Als gehörte er jemand anderem.«
Dr. Benham schüttelte den Kopf. »Um Ihre Fragen zu beantworten, Mister Powers: Das ist kein Symptom von USU, doch es ist eine vollkommen nachvollziehbare psychologische Reaktion für jemanden, der sich USU zugezogen hat. Eine Art, ähm, Ekel vor sich selbst, vielleicht, den Sie als Ablehnung ihrer Geschlechtsorgane externalisieren.«
Das klingt ungefähr richtig, dachte Dr. Benham. Er hoffte, er hatte das Fachchinesisch richtig hinbekommen. Er hatte psychologischen Vorlesungen und Lehrbüchern nie viel Aufmerksamkeit geschenkt, was vielleicht der Grund war, behauptete seine Frau, warum es ihn in eine Londoner Klinik für Geschlechtskrankheiten verschlagen hatte.
Powers schien halbwegs beruhigt.
»Ich hab mir nur Gedanken gemacht, Doktor.« Er kaute auf seiner Unterlippe. »Ähm, was genau ist eigentlich USU?«
Benham lächelte beruhigend. »Es könnte alles Mögliche sein. USU ist einfach unser Ausdruck dafür, dass wir nicht genau wissen, was Sie sich zugezogen haben. Es ist nicht Gonorrhö. Es ist auch kein Schanker. ›Unspezifisch‹ eben, verstehen Sie? Es ist eine Infektion und sie spricht auf Antibiotika an. Da fällt mir ein …« Er öffnete die Schreibtischschublade und entnahm eine neue Wochenration.
»Machen Sie unten einen neuen Termin für nächste Woche. Kein Sex. Kein Alkohol.«
Kein Sex? dachte Simon. Todsicher nicht.
Doch als er auf dem Gang an der hübschen australischen Schwester vorbeikam, spürte er wieder, wie sein Glied sich regte, wie es warm und hart wurde.
Die Untersuchung eine Woche später ergab, das Simon die Krankheit immer noch hatte.
Benham zuckte die Schultern.
»Es ist durchaus nicht ungewöhnlich, dass sie so hartnäckig ist. Sie sagen, Sie haben keine Beschwerden mehr?«
»Nein. Überhaupt keine. Und ich habe auch keinen Ausfluss mehr festgestellt.«
Benham war müde und ein dumpfer Schmerz pochte hinter seinem linken Auge. Er sah auf das Testergebnis in der Akte vor sich hinab. »Aber Sie haben es immer noch, fürchte ich.«
Simon Powers rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her. Er hatte riesengroße, wasserblaue Augen und ein bleiches, unglückliches Gesicht. »Was ist mit dieser anderen Sache, Doktor?«
Der Arzt schüttelte den Kopf. »Welche andere Sache?«
»Das hab ich Ihnen doch erzählt. Letzte Woche. Ich hab’s Ihnen erzählt. Dieses Gefühl, dass mein Penis, na ja, mein Penis irgendwie nicht mehr meiner ist.«
Ach so, dachte Benham. Der Patient ist das. Er konnte sich in dieser Prozession aus Namen, Gesichtern und Penissen unmöglich jeden Einzelnen merken mit all der Verlegenheit, der Aufschneiderei, den schwitzigen Gerüchen und den traurigen kleinen Krankheiten.
»Hm. Wie steht es damit?«
»Es breitet sich aus, Doktor. Die ganze untere Hälfte meines Körpers fühlt sich jetzt an, als gehöre sie jemand anderem. Meine Beine und so weiter. Ich kann sie zwar fühlen und sie gehen, wohin ich will, aber manchmal hab ich das Gefühl, wenn sie woanders hingehen wollten – wenn sie einfach so in die Welt rausmarschieren wollten –, dann könnten sie das und dann würden sie mich einfach mitnehmen.
Ich könnte nichts tun, um sie aufzuhalten.«
Benham schüttelte den Kopf. Er hatte nicht richtig zugehört. »Wir versuchen es mit einem anderen Antibiotikum. Wenn das alte es nicht geschafft hat, Ihnen diese Krankheit auszutreiben, dann das neue aber ganz sicher. Vermutlich wird es auch diese anderen Symptome beseitigen – wahrscheinlich sind sie nur eine Nebenwirkung des Antibiotikums.«
Der junge Mann starrte ihn einfach nur an.
Benham hatte das Gefühl, er müsse noch etwas sagen. »Vielleicht sollten Sie versuchen, mehr vor die Tür zu kommen«, regte er an.
Der junge Mann erhob sich.