Einen Block oder so die Straße runter stand eine Bank. Als ich hinkam, setzte ich mich. Ich warf meine Kippe hart auf den Gehweg und sah die orangefarbenen Funken in alle Richtungen spritzen.
Jemand sagte: »Ich kauf Ihnen eine Zigarette ab, Freund. Hier.«
Eine Hand vor meinem Gesicht, die einen Vierteldollar hielt. Ich sah auf.
Er wirkte nicht alt, obwohl ich nicht hätte sagen können, wie alt er sein mochte. Ende dreißig vielleicht. Oder Mitte vierzig. Er trug einen langen, schäbigen Mantel, farblos im Licht der Straßenlaterne, und seine Augen waren dunkel.
»Hier. Ein Quarter. Das ist ein guter Preis.«
Ich schüttelte den Kopf, zog mein Päckchen Marlboros aus der Tasche und hielt es ihm hin. »Behalten Sie Ihr Geld. Die kostet nichts. Bitte.«
Er nahm eine Zigarette. Ich gab ihm ein Streichholzbriefchen (eine Werbung für Telefonsex war darauf, das weiß ich noch) und er zündete seine Zigarette an. Er wollte mir die Streichhölzer zurückgeben, aber ich schüttelte den Kopf. »Behalten Sie die. Irgendwie sammel ich immer Unmengen von Streichholzbriefchen, wenn ich in Amerika bin.«
»Hm.« Er setzte sich neben mich und rauchte. Als die Zigarette zur Hälfte abgebrannt war, streifte er die Spitze am Asphalt ab, drückte die Glut aus und steckte sich den Stummel hinters Ohr.
»Ich rauche nicht viel«, sagte er. »Aber es wäre schade, die Hälfte einfach wegzuwerfen.«
Ein Auto raste die Straße entlang, fuhr in Schlangenlinie von einer Seite zur anderen. Vier junge Männer saßen darin, die zwei vorne zerrten beide am Lenkrad und lachten. Die Fenster waren offen und ich hörte ihr Lachen und die zwei auf dem Rücksitz (»Gary, du Arschloch! Was machst du denn, Mann?«) und den pulsierenden Rhythmus eines Rocksongs. Kein Song, den ich kannte. Der Wagen schleuderte um die Ecke und war verschwunden.
Bald verhallten auch die Geräusche.
»Ich schulde Ihnen was«, sagte der Mann auf der Bank.
»Bitte?«
»Ich bin Ihnen was schuldig. Für die Zigarette. Und die Streichhölzer. Sie wollten kein Geld. Jetzt bin ich Ihnen was schuldig.«
Ich zuckte verlegen die Schultern. »Ach, es war doch nur eine Zigarette. Ich denk mir immer, wenn ich mal keine hab, dann gibt mir vielleicht auch mal jemand eine aus.« Ich lachte, um zu zeigen, dass ich das nicht ernst meinte, obwohl ich es doch tat. »Vergessen Sie’s.«
»Tja. Möchten Sie eine Geschichte hören? Geschichten waren früher immer eine willkommene Bezahlung. Heutzutage …« – er hob viel sagend die Schultern – »… nicht mehr so.«
Ich lehnte mich auf der Bank zurück und die Nacht war warm und ich sah auf meine Uhr. Beinah ein Uhr morgens. In England hatte schon ein eisiger neuer Tag begonnen, ein Arbeitstag für diejenigen, die es schafften, den Schnee zu überwinden und zur Arbeit zu kommen, und wieder einmal waren vermutlich eine Handvoll alter Leute und Obdachloser in der Nacht erfroren.
»Sicher«, sagte ich zu dem Mann. »Nur zu, erzählen Sie mir eine Geschichte.«
Er hustete und grinste, wobei seine Zähne in der Finsternis aufblitzten, ehe er begann:
»Das Erste, woran ich mich entsinne, war das Wort. Und das Wort war Gott. Manchmal, wenn ich wirklich niedergeschlagen bin, dann erinnere ich mich an den Klang des Wortes in meinem Kopf, wie er mich formte, gestaltete, mir Leben gab.
Das Wort gab mir einen Leib, gab mir Augen. Und ich öffnete meine Augen und erblickte das Licht der Silbernen Stadt.
Ich war in einem Raum – einem silbernen Raum – und nichts und niemand außer mir war dort. Vor mir war ein Fenster, das vom Boden bis zur Decke reichte, und ich konnte die Türme der Stadt und den Himmel sehen und am Rande der Stadt die Finsternis.
Ich weiß nicht, wie lange ich dort wartete. Aber ich war nicht ungeduldig oder so. Das weiß ich noch genau. Es war, als warte ich einfach, bis ich gerufen würde, und ich wusste, irgendwann würde ich gerufen werden. Und wenn ich bis zum Ende aller Dinge warten müsste und niemals gerufen würde, dann war es auch in Ordnung. Aber man würde mich rufen, da war ich sicher. Und dann würde ich meinen Namen und meinen Zweck erfahren.
Durch das Fenster sah ich die silbernen Türme und in vielen dieser Türme waren wiederum Fenster und hinter den Fenstern sah ich andere wie mich. Daher erfuhr ich, wie ich aussah.
Wenn Sie mich heute ansehen, werden Sie’s kaum glauben können, aber damals war ich schön. Seither ist es in der Welt allerdings ein gutes Stück abwärts mit mir gegangen.
Ich war größer und ich hatte Flügel.
Es waren riesige, kraftvolle Flügel mit perlmuttfarbenem Gefieder. Sie wuchsen einfach zwischen meinen Schulterblättern. Sie waren so wunderbar. Meine Flügel.
Manchmal sah ich andere wie mich, die ihre Räume schon verlassen hatten und bereits ihren Pflichten nachgingen. Ich sah sie von Turm zu Turm schweben und Aufgaben erfüllen, die ich mir kaum ausmalen konnte.
Der Himmel über der Stadt war etwas Wundervolles. Er war immer hell, obwohl von keiner Sonne beschienen, sondern vielleicht von der Stadt selbst. Doch die Schattierung des Lichts wandelte sich ständig. Mal hatte das Licht einen Zinnton, dann sah es aus wie Messing, dann wieder wie ein sanftes Gold oder es schimmerte weich und ruhiger wie ein Amethyst …«
Der Mann verstummte. Er sah mich an, den Kopf leicht zur Seite geneigt. In seinen Augen lag ein Glanz, der mir Angst machte. »Wissen Sie, was ein Amethyst ist? Eine Art purpurner Stein?«
Ich nickte.
Ich verspürte ein unangenehmes Gefühl in der Lendengegend.
Mir kam der Gedanke, dass der Mann vielleicht nicht verrückt war, und das fand ich weitaus beunruhigender als die Alternative.
Er begann wieder zu reden. »Ich weiß nicht, wie lange ich in meinem Raum wartete. Aber Zeit hatte keine Bedeutung. Damals nicht. Wir hatten alle Zeit der Welt.
Das Nächste, was geschah, war, dass der Engel Luzifer in meiner Zelle erschien. Er war größer als ich und seine Flügel waren höchst imposant, das Federkleid perfekt. Seine Haut hatte die Farbe von feinem Nebel auf See, sein Haar war silbrig und gelockt, die Augen ein wunderbares Grau …
Ich sage er, aber Sie müssen wissen, dass keiner von uns ein Geschlecht hatte, kein nennenswertes.« Er wies auf seinen Schoß. »Glatt und leer. Da ist nichts. Verstehen Sie?
Luzifer leuchtete. Ich meine das wörtlich, er strahlte von innen. Das tun alle Engel. Sie sind von innen her erleuchtet und der Engel Luzifer strahlte in meiner Zelle wie ein Blitzgewitter.
Er sah mich an. Und er gab mir meinen Namen.
›Du bist Raguel‹, sagte er. ›Die Rache des Herrn.‹
Ich senkte den Kopf, denn ich wusste, es war die Wahrheit. Das war mein Name. Und das war mein Zweck.
›Es hat sich etwas … Falsches ereignet‹, fuhr er fort. ›Zum ersten Mal ist etwas Derartiges geschehen. Du wirst gebraucht.‹
Er wandte sich ab und ließ sich ins Nichts fallen. Ich folgte ihm, flog hinter ihm über die Silberne Stadt bis zu den Außenbezirken, wo die Stadt endet und die Finsternis beginnt, und dort landeten wir im Schatten eines gewaltigen silbernen Turmes und ich entdeckte den toten Engel.
Der Leichnam lag verdreht und zerbrochen auf dem silbernen Gehweg. Seine Flügel waren unter ihm zerdrückt worden; ein paar lose Federn schon in die silberne Gosse geweht.
Der Leichnam war beinah dunkel. Dann und wann flackerte noch ein Licht in seinem Innern auf, ein gelegentliches Flimmern von kaltem Feuer in seiner Brust oder den Augen oder dem geschlechtslosen Schoß, während die letzten Reste seines Lebenslichts ihn für immer verließen.
Blutstropfen wie Rubine benetzten seine Brust und befleckten die weißen Federn seiner Flügel leuchtend rot. Er war sehr schön, selbst noch im Tod.
Hätten Sie ihn gesehen, es hätte Ihnen das Herz gebrochen.
Da sprach Luzifer zu mir: ›Du musst herausfinden, wer hierfür verantwortlich ist und wie es dazu kam, und du musst die Rache des Namens üben an dem, der dies verursacht hat.‹