Das Flugzeug war total ausgebucht, aber das war mir gleich.
Die Stewardess ging mit einem Stapel Zeitungen den Gang entlang: Herald Tribune, USA Today und die L.A. Times. Ich nahm eine Times, aber die Worte verflüchtigten sich aus meinem Kopf, sobald meine Augen sie aufnahmen. Nichts, was ich las, blieb mir im Gedächtnis. Nein, das ist gelogen. Irgendwo auf einer der letzten Seiten stand ein Bericht über einen dreifachen Mord: zwei Frauen und ein kleines Kind. Namen wurden nicht genannt und ich weiß nicht, wieso der Bericht mir in Erinnerung blieb.
Bald schlief ich ein. Ich träumte, dass ich Tink vögelte, während zähflüssiges Blut aus ihren geschlossenen Augen und dem Mund rann. Das Blut war kalt und eklig und nass und ich erwachte mit einem scheußlichen Geschmack im Mund und frierend. Die klimatisierte Luft im Flugzeug war kalt. Ich sah aus dem verkratzten, ovalen Fenster, starrte auf die Wolken hinab und es kam mir (nicht zum ersten Mal) so vor, als seien die Wolken in Wirklichkeit ein Land, ein anderes Land, wo jeder wusste, was er suchte und wie man dahin zurückkam, von wo man aufgebrochen war.
Auf die Wolken hinabzublicken ist eins von den Dingen, die mir am Fliegen immer gefallen haben. Das und die Nähe zum eigenen Tod, die man spürt.
Ich hüllte mich in eine dünne Flugzeugdecke und schlief wieder ein, doch wenn ich irgendetwas geträumt habe, ist es mir jedenfalls nicht in Erinnerung geblieben.
Kurz nach der Landung in England erhob sich ein Schneesturm und verursachte einen Stromausfall im Flughafengebäude. Ich war gerade allein in einem Aufzug. Es wurde dunkel und er blieb zwischen zwei Stockwerken stecken. Ein schwaches Notlicht flackerte auf. Ich drückte den roten Alarmknopf, bis die Batterien leer waren und der Alarmton verstummte. Dann stand ich zitternd in meinem TShirt in einer Ecke meines kleinen silbernen Raums. Ich sah meinen Atem Dampfwolken formen und schlang die Arme um den Oberkörper, um mich zu wärmen.
Nichts und niemand war dort außer mir, trotzdem fühlte ich mich sicher und gut aufgehoben. Bald würde irgendwer kommen und die Tür aufstemmen. Früher oder später würde man mich befreien. Und ich wusste, dass ich bald zu Hause sein würde.
Schnee, Glas, Äpfel
Ich vermag nicht zu sagen, was für ein Geschöpf sie ist. Das weiß niemand. Sie tötete ihre Mutter bei der Geburt, aber das ist keine ausreichende Erklärung.
Sie nennen mich weise, doch ich bin alles andere als weise, selbst wenn ich manches vorausgesehen habe, erstarrte Momente, gefangen in Wasserbecken oder im kalten Glas meines Spiegels. Wäre ich weise, hätte ich nicht versucht zu ändern, was ich sah. Wäre ich weise, hätte ich meinem Leben ein Ende gemacht, lange bevor ich ihr je begegnete, lange bevor ich ihn einfing.
Weise und eine Hexe. Oder zumindest sagte man das. Und ich hatte sein Gesicht mein Leben lang im Traum und in Spiegelungen gesehen. Sechzehn Jahre des Träumens, ehe er an jenem Morgen an der Brücke sein Pferd zügelte und mich nach meinem Namen fragte. Er half mir in den Sattel seines stattlichen Rosses und wir ritten zusammen zu meiner kleinen Hütte, mein Gesicht im Gold seiner Haare vergraben. Er verlangte das Beste, was ich hatte. Das ist das Recht der Könige.
Sein Bart hatte die Farbe von rötlicher Bronze im Morgenlicht und ich erkannte in ihm nicht meinen König, denn von Königen wusste ich damals noch nichts, sondern meinen Liebsten. Er nahm sich alles von mir, das er wollte, nahm sich sein Königsrecht, doch am nächsten Tag kehrte er zu mir zurück und am Abend darauf auch. Sein Bart war so rot, sein Haar so golden, seine Augen blau wie ein Sommerhimmel und die Haut leicht gebräunt wie reifer Weizen.
Seine Tochter war noch ein Kind, als ich in den Palast kam, nicht älter als fünf Jahre. Im Turmzimmer der Prinzessin hing ein Bildnis ihrer toten Mutter: eine hoch gewachsene Frau, ihr Haar die Farbe von Ebenholz und nussbraune Augen. Von ganz anderem Blut als ihre bleiche Tochter.
Das Kind wollte nicht mit uns essen.
Ich weiß nicht, wo im Palast sie die Mahlzeiten einnahm.
Ich hatte meine eigenen Gemächer. Auch mein Gemahl, der König, hatte eigene Räume. Wenn er mich wollte, schickte er nach mir und ich ging zu ihm, um ihn zu erfreuen und meine Freude an ihm zu haben.
Als ich schon einige Monate im Palast lebte, kam sie eines Nachts zu mir. Sie war sechs. Ich saß beim Licht einer Lampe und stickte, verengte die Augen gegen den Rauch der Flamme und ihr unruhiges Flackern. Als ich aufsah, stand sie dort.
»Hoheit?«
Sie sprach nicht. Ihre Augen waren schwarz wie Kohlen, schwarz wie ihr Haar, ihre Lippen röter als Blut. Sie blickte zu mir auf und lächelte. Ihre Zähne wirkten scharf im Lampenlicht, selbst damals schon.
»Warum seid Ihr nicht auf Eurem Zimmer?«
»Ich bin hungrig«, sagte sie, wie Kinder es tun.
Es war Winter und im Winter sind frische Speisen nur ein Traum von Wärme und Sonnenschein, doch ich hatte in meinem Gemach ganze Äpfel, entkernt und getrocknet, auf Schnüren aufgezogen, von den Deckenbalken hängen und ich zog einen für sie herab.
»Hier.«
Der Herbst ist die Zeit des Trocknens, des Pökelns und Räucherns, die Zeit, Äpfel zu pflücken und Gänseschmalz herzustellen. Der Winter ist die Zeit des Hungers, die Zeit von Schnee und Tod. Und zum Fest der Wintersonnenwende schlachten wir ein Schwein, bestreichen seine Haut mit Gänseschmalz, füllen es mit Äpfeln und braten es im Ofen oder am Spieß und laben uns an der knusprigen Kruste.
Sie nahm den getrockneten Apfel und begann, ihn mit ihren scharfen gelben Zähnen zu kauen.
»Ist er gut?«
Sie nickte. Ich hatte mich vor der kleinen Prinzessin immer gefürchtet, doch in diesem Augenblick empfand ich Wärme für sie und strich ihr sanft mit den Fingern über die Wange. Sie sah mich an und lächelte – man sah sie selten lächeln – und dann schlug sie die Zähne in meinen Handballen unterhalb des Daumens, bis das Blut hervorschoss.
Ich fing an zu schreien, vor Schmerz und Überraschung, doch als sie mich ansah, verstummte ich.
Die kleine Prinzessin presste die Lippen auf meine Hand und leckte, saugte und trank. Als sie genug hatte, verließ sie das Zimmer. Ich sah auf meine Hand hinab und augenblicklich begann die Wunde, sich zu schließen, zu verschorfen und zu heilen. Am nächsten Morgen war es eine alte Narbe, als hätte ich mich in meiner Kindheit mit dem Taschenmesser in die Hand geschnitten.
Sie hatte mich vollkommen erstarren lassen, hatte mich besessen und beherrscht. Das machte mir Angst, mehr noch als das Blut, das sie getrunken hatte. Von diesem Tage an verriegelte ich nachts meine Tür, versperrte sie mit einem Eichenbalken und hieß den Schmied, eiserne Stangen anzufertigen und damit auch meine Fenster zu vergittern.
Mein Gemahl, mein König, mein Liebster, schickte immer seltener nach mir und wenn ich zu ihm kam, litt er an Schwindel, war matt und verwirrt. Er konnte mich nicht mehr lieben, wie ein Mann eine Frau liebt, und er gestattete mir nicht, ihn mit meinem Mund zu erfreuen. Das eine Mal, da ich es versuchte, zuckte er zusammen und begann zu weinen. Ich hielt ihn in den Armen, bis das Schluchzen verebbte, und er schlief ein wie ein Kind.
Ich strich mit den Fingern über seine Haut, als er schlief. Sie war mit einer Unzahl alter Narben übersät. Doch aus unserer Freierszeit entsann ich mich keiner Narben bis auf eine in der Seite, wo ein Keiler ihn einmal verletzt hatte, als er als Knabe auf die Jagd geritten war.
Bald war er nur mehr der Schatten des Mannes, den ich an der Brücke kennen und lieben gelernt hatte. Blau und weiß schimmerten die Knochen durch seine dünne Haut. Ich war bei ihm in seiner letzten Stunde. Seine Hände waren kalt wie Stein, seine Augen milchig blau, Haar und Bart verblasst, glanzlos und schlaff. Er starb ungetröstet, seine Haut von Kopf bis Fuß bedeckt mit winzigen alten Narben.