Er wog kaum mehr als eine Feder. Die Erde war hart gefroren und wir konnten kein Grab für ihn schaufeln und so errichteten wir einen Steinhaufen über seinem Leichnam, nur zur Erinnerung, denn es war kaum mehr genug Fleisch an ihm, um hungrige Tiere und Vögel anzuziehen.
So wurde ich Königin.
Und ich war töricht und jung – achtzehn Lenze waren erst vergangen, seit ich das Licht der Welt erblickt hatte – und so tat ich nicht, was ich heute täte.
Wäre es heute geschehen, hätte ich ihr das Herz herausschneiden lassen, gewiss. Aber damit nicht genug. Als Nächstes hätte ich ihr Kopf, Arme und Beine abhacken lassen. Ich hätte befohlen, ihr die Eingeweide herauszuschneiden. Dann hätte ich auf dem Marktplatz gestanden und zugeschaut, während der Henker das Feuer anfachte, bis es weiß glühte, hätte ohne mit der Wimper zu zucken zugesehen, wie er sie Stück um Stück dem Feuer überantwortete. Und ich hätte Bogenschützen um den Marktplatz postiert und befohlen, jeden Vogel und jedes Tier zu erschießen, das sich den Flammen näherte, jede Ratte, jeden Raben, Hund oder Falken. Und ich hätte die Augen nicht geschlossen, ehe die Prinzessin zu Asche zerfiel, die eine sachte Brise zerstreuen mochte.
Doch das habe ich nicht getan und wir zahlen für unsere Fehler.
Sie sagen, ich habe mich täuschen lassen, es sei nicht ihr Herz gewesen. Dass es das Herz eines Tieres war, eines Hirschs vielleicht oder eines Wildschweins. Das sagen sie und sie irren sich.
Manche sagen gar (doch das ist ihre Lüge, nicht meine) dass man mir das Herz gebracht und ich es verschlungen hätte. Lügen und Halbwahrheiten fallen wie Schnee und bedecken die Dinge, derer ich mich entsinne, Dinge, die ich sah. Eine Landschaft, die nach dem Schneefall nicht wiederzuerkennen ist, das ist es, was sie aus meinem Leben gemacht hat.
Ich hatte Narben an meinem Liebsten gefunden, Narben auf ihres Vaters Schenkeln, seinem Hodensack und seinem Glied, als er starb.
Ich ging nicht mit ihnen. Sie ergriffen sie am Tage, die Zeit, da sie schläft und am schwächsten ist. Sie brachten sie tief in den Wald und dort öffneten sie ihr Hemd, schnitten ihr das Herz heraus und ließen sie tot in einem Graben liegen, auf das der Wald sie verschlinge.
Der Wald ist ein dunkler Ort, Grenze vieler Königreiche. Niemand wäre so töricht, die Herrschaft über den Wald zu beanspruchen. Gesetzlose leben dort, Räuber und Wölfe. Man kann viele Tage durch den Wald reiten, ohne je einer Menschenseele zu begegnen, doch die ganze Zeit spürt man Augen auf sich gerichtet.
Sie brachten mir ihr Herz. Ich wusste, es war ihres. Kein Herz einer Sau oder Ricke hätte weiter geschlagen und gezuckt, nachdem es den Körper verlassen hatte, so wie ihres es tat.
Ich trug es in mein Gemach.
Ich aß es nicht, sondern hing es an die Balken über meinem Bett an einem Zwirnsfaden, auf den ich Vogelbeeren aufgezogen hatte, orangefarben wie die Brust des Rotkehlchens, und Knoblauchknollen.
Draußen rieselte der Schnee und bedeckte die Fußspuren meiner Jäger ebenso wie den kleinen Körper, der im Wald lag.
Ich hieß den Schmied, die Eisenstangen von meinem Fenster zu entfernen, und an jedem der kurzen Winternachmittage verbrachte ich eine Weile in meinem Gemach und sah hinaus auf den Wald, bis es dunkel wurde.
Es gab, wie ich bereits erwähnte, Menschen im Wald. Manche von ihnen kamen im Frühling anlässlich des Lenzmarktes zum Vorschein; ein raffgieriges, wildes Volk, manche von ihnen missgestaltet, Zwerge und Bucklige, andere hatten die riesigen Zähne und leeren Gesichter von Schwachsinnigen, manche hatten Finger wie Flossen oder Krebsscheren. Jahr um Jahr kamen sie aus dem Wald gekrochen, wenn nach der Schneeschmelze der Lenzmarkt gehalten wurde.
Als junges Mädchen hatte ich auf dem Markt gearbeitet und damals hatten sie mir Angst gemacht, die Leute aus dem Wald. Ich hatte den Marktbesuchern die Zukunft vorausgesagt, indem ich in einer Schale mit stillem Wasser las, und später, als ich älter war, in einem Stück polierten Glas, dessen Rückseite versilbert war – das Geschenk eines Kaufmannes, dessen entlaufenes Pferd ich in einem Tintenspiegel gesehen hatte.
Auch die Händler auf dem Markt fürchteten sich vor dem Waldvolk. Sie nagelten ihre Waren auf die Bretter ihrer Stände: Ingwerbrot oder Ledergürtel wurden mit dicken Eisennägeln ans Holz geschlagen, denn andernfalls, so sagten sie, würde das Waldvolk ihre Waren stehlen und davonlaufen, während sie das erbeutete Ingwerbrot kauten und mit den Gürteln um sich schlugen.
Dabei hatte das Waldvolk durchaus Geld. Eine Münze hier oder da, manchmal grün und fleckig vom Alter oder der Walderde und die Gesichter auf ihren Münzen waren selbst den ältesten unter uns unbekannt. Außerdem besaßen sie Dinge, die sie eintauschen konnten, und so bediente der Markt auch alljährlich die Ausgestoßenen und die Zwerge und die Räuber (wenn sie vorsichtig waren), die dem gelegentlichen Reisenden aus fernen Ländern jenseits des Waldes auflauerten oder den Zigeunern oder dem Wild. Auch das galt in den Augen des Gesetzes als Raub, denn das Wild gehörte der Königin.
Langsam zogen die Jahre ins Land und mein Volk sagte, die Königin herrsche mit Weisheit. Das Herz hing nach wie vor über meinem Bett und pulsierte schwach in der Nacht. Ich wüsste niemanden, der um die Prinzessin getrauert hätte, denn alle fürchteten sich damals vor ihr und waren froh, ihrer ledig zu sein.
Ein Lenzmarkt folgte dem anderen, fünf waren inzwischen vergangen, jeder trauriger, ärmlicher und schäbiger als der vorangegangene. Immer weniger Leute kamen aus dem Wald, um Handel zu treiben. Diejenigen, die kamen, schienen niedergeschlagen und matt. Die Händler nagelten ihre Waren nicht länger an den Brettern fest. Und im fünften Jahr kam nur noch eine Handvoll des Waldvolkes – ein verängstigtes Häuflein kleiner, haariger Männer und niemand sonst.
Der Herr des Marktes und sein Knappe kamen am Abend des Markttages zu mir. Ich hatte ihn flüchtig gekannt, ehe ich Königin wurde.
»Ich komme nicht zu Euch als Königin«, begann er.
Ich schwieg und hörte zu.
»Ich komme zu Euch, weil Ihr weise seid«, fuhr er fort. »Als Ihr ein Kind wart, fandet Ihr ein verirrtes Fohlen, indem Ihr in eine Schale mit Tinte schautet, und als junges Mädchen fandet ihr einmal ein verirrtes Kind mit Eurem Spiegel. Ihr kennt Geheimnisse und könnt das Verborgene sehen. Meine Königin, was geschieht mit dem Waldvolk? Nächstes Jahr wird es keinen Lenzmarkt geben. Die Reisenden aus anderen Königreichen sind selten geworden und das Waldvolk ist beinah ausgelöscht. Noch ein Jahr wie das letzte und wir werden alle verhungern.«
Ich befahl meiner Zofe, mir meinen Spiegel zu bringen. Er war schlicht, eine Glasscheibe mit versilberter Rückseite, die ich eingewickelt in Hirschleder in einer Truhe in meinem Gemach verwahrte.
Sie brachte ihn zu mir und ich blickte hinein:
Sie war zwölf und kein kleines Mädchen mehr. Ihre Haut war immer noch bleich, Augen und Haare rabenschwarz, die Lippen blutrot. Sie trug dieselben Kleider wie am Tage, da sie den Palast zum letzten Mal verlassen hatte – ein Hemd und einen Rock, häufig geflickt und mit ausgelassenem Saum. Darüber trug sie einen ledernen Umhang und statt Stiefel schützten Lederbeutel ihre zierlichen Füße, zugebunden mit Riemen.
Sie stand im Wald im Schatten eines Baumes.
Während ich sie im Geiste beobachtete, sah ich sie von Baum zu Baum schlüpfen und huschen und schleichen und gleiten wie ein Tier, eine Fledermaus oder ein Wolf. Sie verfolgte jemanden.
Es war ein Mönch. Er war in Sackleinen gekleidet und seine bloßen Füße waren hart und wie gegerbt. Bart und Haare waren lang, die Tonsur fast zugewachsen.