Ich hörte das dreifache Läuten der Schiedsrichterglocke und sah, wie die Tarns Aufstellung nahmen. Erwartungsvolles Rufen wurde laut. Letzte Wetten wurden geschlossen. Die Zuschauer schoben ihre Kissen zurecht.
Acht Tarns flogen dieses Rennen, und mit Häubchen über den Köpfen wurden sie auf niedrigen Fahrzeugen herangerollt. Die Wagen leuchteten in den Farben der Mannschaften. Der Reiter stand auf der Plattform neben seinem Tier, in die Seide- seiner Mannschaft gehüllt.
Bei den Tarns handelte es sich natürlich um Renntarns, Vögel, die sich in mancher Hinsicht von den gewöhnlichen goreanischen Tarns unterscheiden. Die Unterschiede liegen nicht nur im Training, sondern auch in der Körpergröße, in der Flugkraft, im Allgemeinen Körperbau und in den Neigungen des Tiers. Einige Tarns werden wegen ihrer Körperkräfte gezüchtet und sind für den Transport von Waren mit dem Tarnkorb bestimmt. Sie fliegen gewöhnlich langsamer und sind weniger bösartig als die Kriegstarns oder die Renntarns. Die Kriegstarns müssen natürlich sowohl kräftig als auch schnell sein, dazu beweglich, schnell in der Reaktion und furchtlos im Kampf. Kriegstarns, deren Krallen mit messerscharfem Stahl besetzt werden, sind sehr gefährlich, mehr noch als gewöhnliche Tarns, die schon nicht als voll gezähmt angesehen werden können. Der Renntarn ist nun ein sehr leichter Vogel; zwei Männer können ihn anheben; sogar sein Schnabel ist schmaler und leichter als der anderer Tarns; die Spannweite seiner Flügel ist größer, so daß er schneller starten kann und in der Luft außerordentlich wendig ist; das Tier vermag keine großen Lasten zu tragen, der Reiter muß ungewöhnlich klein sein; gewöhnlich ist er von niederer Kaste, kampfwütig und aggressiv.
Den Tarns wurden die Häubchen abgenommen, sogleich sprangen sie mit peitschenden Flügeln auf die vorgesehenen Startstangen. Die Startpositionen werden durch Los bestimmt. Wer dabei die innere Stange zieht, hat einen Vorteil. Ich bemerkte, daß diesmal Grün den inneren Startplatz bekommen hatte. Die Stangen im Start und Ziel sind übrigens dieselben; nur daß beim Ziel die äußere Stange, die beim Start am wenigsten beliebte, zuerst angeschlagen werden muß.
Ich stellte fest, daß zwei Tarns in diesem Rennen nicht einer bestimmten Mannschaft angehörten, sondern Privatbesitz waren; ihre Reiter gehörten ebenfalls nicht zu den etablierten Mannschaften. Der Reiter ist beim Rennen übrigens nicht minder wichtig als der Vogel, denn ein guter Reiter vermag ein junges unerfahrenes Tier oft auf die erste Stange zu führen, während selbst ein erfahrener Vogel, der schon viele Rennen geflogen ist, bei einem schlechten Lenker schnell ins Hintertreffen geraten kann.
»Süßigkeiten!« verkündete eine piepsige Stimme einige Meter unter mir.
»Süßigkeiten!«
Ich wandte den Kopf und entdeckte dort zu meiner Überraschung die unförmige Gestalt von Hup dem Narren. Er hatte mich nicht gesehen, sondern hüpfte im Gang herum, wobei sein großer Kopf hierhin und dorthin wackelte, während seine Zunge dann und wann unkontrolliert hervorschnellte. Seine knochigen Hände umfaßten ein kleines Tablett, das er sich mit einem Strick um den Hals gebunden hatte.
Viele Leute in seiner Nähe wandten sich ab. Die freien Frauen zogen ihre Schleier enger. Einige Männer gaben dem kleinen Narr hastige Zeichen, sich zu entfernen, damit er ihren Frauen das Rennen nicht verderbe. Ich bemerkte, daß ein junges Sklavenmädchen, vielleicht fünfzehn Jahre alt, ein kleines Päckchen Süßigkeiten von ihm kaufte. Ich hätte selbst etwas gekauft, doch ich wollte nicht, daß er mich erkannte, sofern sein kleiner Geist überhaupt in der Lage war, sich an unsere erste Begegnung in der Taverne des Spindius zu erinnern.
Allerdings hatte ich ihm das Leben gerettet.
Hup ließ wahrscheinlich keine Chance aus, auch wenn er die meiste Zeit wohl mit Betteln verbrachte. Ich fragte mich, ob er die goldene Tarnmünze des Portus dazu verwendet hatte, sich eine Lizenz für den Süßigkeitenverkauf zu beschaffen.
»Ich glaube, ich nehme eine Süßigkeit!« rief der Mann hinter mir.
Ich stand auf und wandte mich ab, damit ich von Hup nicht gesehen wurde. Ohne nach rechts oder links zu schauen, ging ich ein paar Schritte weiter.
Ich fand einen Sitz einige Meter entfernt und bemerkte nach einiger Zeit, daß sich Hup in die andere Richtung entfernte.
»Welche ist deine Mannschaft?« fragte der Mann, neben dem ich mich niedergelassen hatte, ein Metallarbeiter.
»Ich bin für die Grünen«, sagte ich, ohne nachzudenken.
»Ich unterstütze die Goldenen«, sagte er. An der Schulter trug er ein goldenes Stoffstück.
Die Schiedsrichterglocke gellte einmal auf, und die Menge begann zu schreien und sprang auf, als sich die Tarns mit schwirrenden Flügeln in die Luft erhoben, kaum daß die weiße Schnur vor ihnen fortgezogen wurde.
Der Grüne, der die innere Stange gezogen hatte, übernahm sofort die Führung.
Eine Runde mißt etwa einen Pasang, so daß die beiden Seiten der Spur je etwa fünfhundert Meter lang sind und in der Breite an den Enden etwa fünfzig Meter erreichen. Die ganze Anlage ähnelt einem schmalen Rechteck mit abgerundeten Enden. Der Flugkurs ist durch zwölf Ringe ausgelegt, die mit Ketten an Stützpfeilern befestigt sind; sechs ›Ringe‹ verteilen sich zu dritt auf jede Längsstrecke; die kleineren runden Ringe befinden sich an den Ecken und je einer auf der Schmalseite der Bahn.
Wenn die Tarns also die Startstangen verlassen, kommen sie zuerst durch drei rechteckige ›Ringe‹, dann zur ersten Wende, wo mit der Biegung drei runde Ringe zu durchfliegen sind; auf der geraden Strecke erreichen sie wieder drei rechteckige ›Ringe‹ und kommen schließlich zur zweiten Wende, wo wiederum drei runde Ringe überwunden werden müssen. Einen solchen Kurs zu fliegen erfordert Geschicklichkeit, besonders beim Herumziehen in den Kurven und beim Passieren der kleinen runden Ringe. Wenn vier Tarns in engster Formation fliegen, zwei übereinander und je einer links und rechts, passen sie eben durch einen runden Ring. Natürlich liegt den Reitern daran, ihre Tiere so zu steuern, daß sie die Mitte des Ringes einnehmen und die nachfolgenden Vögel zwingen, gegen den Ring zu stoßen oder ihn ganz zu verfehlen.
Dieses Rennen war nur kurz, über fünf Pasang, und zum Mißvergnügen des Publikums gewann einer der Tarns, der keiner Mannschaft angehörte.
Ein Mann in meiner Nähe zählte offenbar zu den wenigen Glücklichen, die auf den Sieger gesetzt hatten, denn er hüpfte freudig auf und ab. Er drängte sich durch die Menge und näherte sich den Tischen der Buchmacher.' Ich stellte fest, daß Minus Tentius Hinrabius diesen Augenblick wählte, um die Rennen zu verlassen. Sichtlich irritiert zog er sich zurück, gefolgt von seinen Wächtern, von Saphronicus, dem Führer seiner Garde, und dem übrigen Hofstaat. Zu meiner Überraschung nahm auf den Tribünen kaum jemand Notiz davon.
Es sollten noch mehrere Rennen folgen, doch die Nachmittagssonne war nun hinter dem Zentralzylinder verschwunden; ich wollte nun ebenfalls gehen.
In diesem Augenblick dröhnte die Schiedsrichterglocke zweimal. Das nächste Rennen begann in zehn Ehn.
Ich erhob mich von meinem Sitz und drängte zum Ausgang. Einige Zuschauer sahen mir tadelnd nach. Die Rennbegeisterten Ars bleiben gewöhnlich bis zum letzten Rennen. Zudem trug ich nicht einmal einen Mannschaftsstreifen.
Ich wollte mich ein wenig in den Capacischen Bädern entspannen. Es gab da ein süßes Mädchen namens Nela, das am Becken der Blauen Blumen Dienst tat, mit dem ich gern schwamm. Wenn ich dann ins Haus des Cernus zurückkam, hatte Elizabeth ihr Abendessen zu sich genommen und wartete bereits auf mich, um mir über ihren Tag zu berichten. Wenn sie im Verlauf ihres Trainings das Haus öfter verlassen durfte, wollte ich sie auch mit zu den Rennen nehmen.
Etwa zwanzig Tage waren vergangen, seit die Mädchen aus den Voltai-Bergen gebracht worden waren. Das Training Elizabeths und der beiden anderen Mädchen Virginia und Phyllis hatte vor fünf Tagen begonnen.