Der Mann lächelte mich an und wandte sich ab.
Ich hob die Hand und begann ihm nachzugehen, doch im Nächsten Augenblick stolperte ich über den kleinen Hup und verschüttete seine Süßigkeiten. »Oh! Oh!« rief der Narr betrübt, krabbelte auf dem Boden herum und klaubte seine Waren wieder zusammen. Ärgerlich stieg ich über den Zwerg hinweg, doch schon drängten sich andere zwischen mich und den großen Mann in der Bauerntunika, und im nächsten Moment war er verschwunden. Ich lief ihm nach, vermochte ihn in der Menge jedoch nicht zu finden.
Hup hüpfte mir entrüstet nach und zupfte an meinem Umhang. »Zahlen!
Zahlen!« wimmerte er.
Ich beugte mich zu ihm hinab und sah in seinen weitaufgerissenen, ungleichen Augen keinerlei Erkennen aufdämmern. Sein armseliger Geist vermochte sich nicht mehr an das Gesicht des Mannes zu erinnern, der ihm einmal das Leben gerettet hatte. Ich gab ihm ein silbernes Vierziger-Stück, weitaus mehr, als alle seine Süßigkeiten wert waren, und eilte weiter. »Danke, Herr!« kreischte der Narr ir nach und hüpfte hin und her. »Danke, Herr!«
Meine Gedanken überstürzten sich. Was mochte es bedeuten, fragte ich mich, daß er sich in Ar aufhielt? Ein Irrtum war ausgeschlossen. Der Mann in der Tunika eines Bauern, der Mann mit dem großen Stab war eindeutig – Marlenus, der frühere Ubar der Stadt.
11
»Ich verstehe nicht, wie das hat geschehen können«, sagte Nela. Sie beugte sich über mich. Ich lag schläfrig auf einem dicken Handtuch, und ihre kräftigen Hände massierten das Badeöl in meine Haut.
»Die Tochter des Minus Tentius Hinrabius müßte doch sicher sein, sie am allermeisten.«
Wie die meisten anderen Mädchen hier in den Bädern kannte Nela heute kein anderes Gesprächsthema als das überraschende Verschwinden von Claudia Tentia Hinrabia, der stolzen und verdorbenen Tochter des Administrators. Es hatte den Anschein, als sei sie aus dem Zentralzylinder, aus den Privatquartieren des Administrators und seiner Familie entführt worden. Wie es hieß, war Saphronicus, der Anführer der taurentianischen Garde, außer sich vor Wut. Er organisierte Razzien überall in der Stadt und in der Umgebung und sammelte alle Berichte, die irgendwie mit dem Fall zu tun haben könnten. Der Administrator, seine engsten Berater und seine Familie hatten sich eingeschlossen. Die ganze Stadt brodelte vor Aufregung, und eine Flut von Gerüchten war in Umlauf. Auf dem Dach des Zylinders der Wissenden brachte der Höchste Wissende ein Opfer dar.
»Nicht so fest«, murmelte ich.
»Ja, Herr«, erwiderte sie.
Ich hielt es durchaus für möglich, daß Claudia Hinrabia entführt worden war. Obwohl das nicht die einzig mögliche Erklärung für ihr Verschwinden sein mochte. Wenn es auch auf Gor durchaus üblich ist, Frauen zu stehlen, um Sklavinnen aus ihnen zu machen, konnte ich mir doch nicht vorstellen, daß die Tochter des Administrators einen solchen Coup lohnen würde, wenn es nur um eine Sklavin ging. Immerhin galten die Taurentianer als geschickte und vorsichtige Krieger, so daß offenbar ein höherer Einsatz im Spiel war.
»Wahrscheinlich wird morgen eine Lösegeldforderung gestellt«, sagte Nela.
»Möglich«, knurrte ich.
Obwohl mich das Schwimmen und die Massage müde gemacht hatten, ging mir noch immer das Problem Marlenus im Kopf herum, den ich in der Arkade vor dem Rennplatz gesehen hatte. Gewiß wußte er von den Gefahren, die ihm drohten, wenn er in Ar entdeckt wurde. Er war des Todes. Ich fragte mich, was ihn wieder einmal in das Herrliche Ar gezogen haben mochte.
Wahrscheinlich hatte sein Auftauchen nichts mit dem Verschwinden des hinrabischen Mädchens zu tun, denn sie mußte etwa zu der Zeit entführt worden sein, als ich ihn im Stadion sah. Außerdem hätte ihm diese Tat die Rückkehr auf den Thron der Stadt sicher nicht erleichtert.
»Wieviel Lösegeld kann eine solche Frau bringen?« fragte Nela.
»Ich weiß nicht«, sagte ich. »Vielleicht die hinrabischen Ziegelwerke.«
Nela lachte.
Sie war ein stämmiges Mädchen, etwas zu klein geraten. Ihr einziges Kleidungsstück bestand im Augenblick aus einem Handtuch. Ihre Augen waren hellblau wie Wasser. Sie war eine großartige Schwimmerin und trug ihr blondes Haar sehr kurz. Um ihren Hals trug sie anstelle eines Sklavenkragens ein Kettchen mit einem Schild. Darauf stand: ›Ich bin Nela aus den Capacischen Bädern. Becken der Blauen Blumen. Ich koste einen Tarsk‹.
Nela war ein teures Mädchen, obwohl es Becken gibt, an denen die Mädchen bis zu einer silbernen Tarnscheibe verlangen. Der Tarsk ist eine Silbermünze, die vierzig kupferne Tarnscheiben wert ist.
Ich hatte Nela vor einigen Tagen kennengelernt und mich schnell mit ihr angefreundet. Ihre Massage war stets entspannend, und sie wußte nett zu plaudern.
Es gibt zahlreiche Becken in den Capacischen Bädern, die nach Form und Größe sehr unterschiedlich sind, auch nach Ausstattung und Temperatur und Düften. Hier am Becken der Blauen Blumen war es angenehm kühl. Die Luft war mit dem Duft der Veminium-Blume angereichert, einer bläulichen Blüte, die vorwiegend in den Thentisbergen zu finden ist. Auch der Wandschmuck und die Darstellungen im Becken zeigten Veminiumblüten; darüber hinaus Waren zahlreiche Kästen rings um das Becken mit diesen Blumen gefüllt. Es gab viele kleine Nebenräume und Haine und Bänke zum Ausruhen.
Nela war seit ihrem vierzehnten Lebensjahr Sklavin. Zu meiner Überraschung war sie in Ar geboren. Sie hatte allein mit ihrem Vater gelebt, der bei den Rennen hoch verlor. Als er starb, wurde die Tochter zur Deckung seiner Schulden als Sklavin verkauft. Sie kam zuerst zu dem Pächter einer der öffentlichen Küchen in einem Zylinder. Ein Jahr lang hatte sie als Topfmädchen gearbeitet, doch schließlich hatte sie ihr Herr an die Capacischen Bäder veräußert und dabei noch einen Gewinn gemacht. Hier hatte sie sich zu ihrer Stellung hochgearbeitet.
Nun lag ich nachdenklich auf meinem Handtuch und überlegte.
»Ich hoffe«, sagte Nela, »Claudia Tentia Hinrabia wird zur Sklavin gemacht.«
Ich hob den Kopf und sah sie an. »Ist das dein Ernst?«
»Ja, sie ist frei und reich und von hoher Geburt – sie soll auch einmal spüren, wie es ist, keinen eigenen Willen zu haben.«
»Sie sollte dir aber leid tun«, sagte ich.
»Sie hat einmal einem Sklavenmädchen, das einen Spiegel fallenließ, Nase und Ohren abschneiden lassen«, sagte Nela.
»Woher weißt du das?«
Das Mädchen lachte. »Ich weiß alles, was in Ar vorgeht. Hier in den Bädern erfährt man manches.«
»Ist die Familie Hinrabia in Ar nicht beliebt?« fragte ich.
»Nein«, sagte sie leise, aber entschieden; ich spürte, wie sie prüfend umsah. »Sie ist nicht beliebt.«
»Und was ist mit Kazrak?«
»Er war ein guter Administrator«, sagte sie. »Aber er ist fort. Als ich noch ein kleines Mädchen war, als ich noch frei lebte, habe ich einmal Marlenus von Ar gesehen!«
»Oh?«
»Er war der Ubar aller Ubars«, sagte sie, und Ehrfurcht schwang in ihrer Stimme mit.
»Vielleicht kehrt Marlenus eines Tages zurück.«
»So darfst du nicht reden«, flüsterte sie. »In Ar kann so etwas zum Tode führen.«
»Wie man hört, hält er sich in den Voltai-Bergen auf.«
»Minus Tentius Hinrabius«, sagte sie, »hat ein dutzendmal Kriegertrupps in die Berge geschickt, um ihn ermorden zu lassen. Doch sie haben ihn nicht gefunden.«
»Warum will er Marlenus töten?« fragte ich.
»Er ist gefürchtet«, antwortete sie. »Man fürchtet, daß er nach Ar zurückkehrt.«
»Würdest du ihn gern wieder in Ar sehen?« »Er war der Ubar aller Ubars. Und ich bin in Ar geboren.« Ich ließ mich auf den Rücken rollen, nahm Nelas Handgelenke, zog sie herab und küßte sie. Ich sah keinen Grund, ihr zu sagen, daß ich an diesem Nachmittag, erst vor wenigen Stunden, Marlenus in Ar gesehen hatte.
Als ich die Badehäuser verließ, traf ich zufällig den Tarnzüchter, dem ich schon einmal begegnet war, als wir vor der Taverne des Spindius nebeneinander standen und dem Spiel des blinden Mannes gegen den Weinhändler zusahen. Der Mann war klein und hatte kurzgeschnittenes braunes Haar. Sein Gesicht war ziemlich massig und gedrungen, zu groß für seine Körpergröße. Ich sah, daß er ein grünes Stoffstück auf der Schulter trug.