Demzufolge gab es bald keine Rennen und Spiele mehr, die von den Hinrabiern finanziert wurden, und Festlichkeiten, die gemeinsam unterstützt worden waren, trugen nicht mehr den Namen des Administrators. So erschien nun allein Cernus als Schirmherr und Wohltäter auf den Anschlagtafeln. Schließlich begannen sich auch kleinere Omen, von dem Höchsten Wissenden verkündet, gegen die hinrabische Dynastie zu wenden. Zwei Mitglieder des Hohen Rates, die sich offen gegen den Einfluß der Kaufleute in der städtischen Politik ausgesprochen hatten, wurden ermordet aufgefunden, der eine erstochen, der andere in der Nähe seines Hauses aufgehängt. Der erste Schwertkämpfer der Militärstreitkräfte Ars, Maximus Hegesius Quintilius, der in seiner Kommandogewalt direkt Minus Tentius Hinrabius unterstellt war, wurde seines Postens enthoben. Er hatte kurz zuvor noch Bedenken darüber geäußert, daß Cernus in die Kaste der Krieger aufgenommen werden sollte. Er wurde von einem Mitglied der Taurentianer ersetzt, Seremides aus Tyros, benannt von Saphronicus aus Tyros, Anführer der Taurentianer. Kurz danach wurde Maximus Hegesius Quintilius tot aufgefunden. Er war an dem Todesbiß eines Mädchens aus seinem Vergnügungsgarten gestorben, die – ehe sie vor die Schranken des Gerichts gebracht werden konnte – von wütenden Taurentianern erdrosselt wurde. Es war allgemein Bekannt, daß die Taurentianer Maximu s Hegesius Quintilius sehr verehrt hatten. Ich erinnerte mich an ihn aus der Zeit des großen Kampfes um Ar, als er gegen Pa-Kur und seine Horde gekämpft hatte. Er war ein guter Soldat gewesen, und ich bedauerte seinen Tod. Bei seinem Begräbnis erhielt er alle militärischen Ehren; seine Asche wurde vom Rücken eines Tarn über einem Gebiet verstreut, über das er vor einigen Jahren als General die siegreichen Truppen Ars geführt hatte.
Cernus' Verlangen nach Schuldentilgung bei den Hinrabiern wurde immer dringlicher. Er gab vor, selbst große Summen zu benötigen, und ließ sich nicht mehr abweisen. Die Bürger Ars nahmen es nicht sehr positiv auf, daß es mit den Hinrabiern finanziell so schlecht war. Wie zu erwarten war, kamen sehr bald Gerüchte über mögliche Prüfungen auf, theoretisch um den Namen der Hinrabier reinzuwaschen – diese Forderung wurde dann im Hohen Rat von einem Arzt gestellt, den ich schon des öfteren im Haus des Cernus gesehen hatte. Die Schriftgelehrten des Zentralzylinders untersuchten die Dokumente und stellten zu ihrem Entsetzen Differenzen fest. Offenbar waren an Familienmitglieder Zahlungen geleistet worden, bei denen nicht deutlich wurde, ob dafür je Leistungen erbracht worden waren, offenbar schienen auch Beträge verschwunden zu sein, die für den Bau von neuen Ställen für Kriegstarne bestimmt gewesen waren. Zugleich ließen die Buchmacher im Stadion der Tarns verlauten, daß der Administrator große Schulden habe, und auch sie begannen ihre Forderungen anzumelden, um nicht Verluste zu erleiden.
Es schien unausweichlich, daß Minus Tentius Hinrabius seine braune Amtsrobe ablegen würde. Er tat den erforderlichen Schritt Ende des Frühlings, am sechzehnten Tag des dritten Monats, der in Ar Camerius und in Ko-ro-ba Selnar genannt wird. Am Tag vor seiner Abdankung hatte der Höchste Wissende aus einer Boskleber gelesen, was alle anderen schon vermuteten – daß die Chancen für die hinrabische Dynastie absolut nicht gut standen.
Als der Hohe Rat das Versprechen Minus Tentius Hinrabius' erhielt, die Stadt zu verlassen, wurde auf eine offizielle Verbannung verzichtet. Mit seiner Familie und seinen Getreuen verließ er Ar am siebzehnten Tag des Camerius. Am Ende des Monats liquidierten die anderen Hinrabier hastig ihre Besitztümer, flohen aus der Stadt und stießen einige Pasang außerhalb der Mauern auf Minus Tentius Hinrabius. Zusammen zogen die Hinrabier dann in Richtung Tor weiter, das ihnen Unterkunft gewähren wollte. Leider wurde die Karawane kaum zweihundert Pasang vom großen Tor Ars entfernt von einer bewaffneten Streitmacht unbekannter Herkunft angegriffen und bis auf den letzten Mann aufgerieben; auch die Frauen wurden getötet, was eigentlich ungewöhnlich war, denn weibliche Beutestücke eines Überfalls werden gewöhnlich versklavt und profitbringend verkauft. Ein einziges Mitglied der hinrabischen Familie wurde nicht zwischen den Toten gefunden – und das war interessanterweise Claudia Tentia Hinrabia.
Am zwanzigsten Tag des Camerius verkündeten die großen Signalstangen auf den Mauern die Inthronisierung eines neuen Ubar von Ar. Cernus war zum Ubar ernannt worden, und die Taurentianer hoben grüßend ihre Schwerter, und die Mitglieder des Hohen Rates applaudierten dem neuen Ubar von Ar. Prozessionen fanden statt, es gab Turniere, Dichter und Poeten priesen den Augenblick, der eine ekstatischer als der andere, und schließlich – das war vielleicht das Wichtigste – wurden Ferien ausgerufen, und in den nächsten zehn Tagen fanden ununterbrochen Rennen und Spiele statt, sogar über die Dritte Passage-Hand hinaus.
Ich sah darin natürlich mehr als nur die Arbeit des Cernus. Ich sah hier einen Teil des Plans der Anderen verwirklicht. Mit einem der ihren auf dem Thron von Ar hatten sie in dieser Stadt einen bemerkenswerten Rückhalt für die Beeinflussung von Menschen und die Anwerbung von Partisanen – wie Misk schon angedeutet hatte, kann ein bewaffneter Mensch einem Priesterkönig schon gefährlich werden.
Es gab jedoch einen Aspekt, der mir Anlaß zu ungetrübter Freude war.
Elizabeth und Virginia und Phyllis sollten aus dem Haus des Cernus entfernt und in Sicherheit gebracht werden. Caprus, der zugänglicher und offenbar auch kühner geworden war, informierte mich, daß er mit einem Agenten der Priesterkönige gesprochen habe. Dies war wahrscheinlich darauf zurückzuführen, daß Cernus nach seiner Inthronisierung nun weitaus seltener im Haus anzutreffen war.
Caprus' Plan war einfach, aber genial. Die Mädchen sollten beim Liebesfest, das tags darauf beginnen würde, von einem Agenten der Priesterkönige erworben werden, der die Möglichkeit hatte, jeden Konkurrenten auszustechen. Dadurch wurden sie so natürlich und problemlos aus dem Haus genommen, wie Elizabeth ursprünglich eingeschleust worden war. Es stimmte, daß Elizabeth nicht mehr benötigt wurde, schon lange nicht mehr; meine Anwesenheit war natürlich noch erforderlich, um die kopierten Dokumente und Caprus aus dem Haus zu schmuggeln. Elizabeth gefiel es natürlich nicht, ohne mich reisen zu müssen, doch auch sie erkannte die positiven Seiten des Plans; wenn sie bereits fort war, brauchten sich Caprus und ich keine Sorgen über die Mädchen mehr zu machen, zumal sie sich natürlich wünschte, daß auch Virginia und Phyllis ihre Freiheit erlangten.
Außerdem konnte sie sich vorstellen, daß es recht schwierig werden würde, die Dokumente, Caprus und drei Mädchen unbemerkt aus der Stadt zu bringen.
Alles in allem war Caprus' Plan geradezu ideal. Natürlich wurden weder Virginia noch Phyllis eingeweiht. Je weniger Mitwisser es gab, desto besser. Sie würden sich auch viel natürlicher bewegen können, wenn sie nicht wußten, worum es ging. Sollten sie doch denken, daß sie auf dem Block verkauft wurden. Um so größer dann später die Überraschung, wenn sie entdeckten, daß ihnen die Freiheit winkte. Ich lachte leise. Mich heiterte auch der Gedanke auf, daß Caprus mich von sich aus über die Fortschritte seiner Arbeit unterrichtet hatte. Er hoffte die Dokumente und Landkarten zu Beginn des Se'Kara fertig zu haben; offenbar hatte er nun mehr Gelegenheit zum Arbeiten, da sich Cernus oft im Zentralzylinder der Stadt aufhielt.
Se'Kara bedeutete trotzdem noch eine lange Zeit des Wartens. Es war aber besser als nichts, und ich freute mich. Elizabeth und ihre beiden Freundinnen wurden gerettet. Und Caprus schien guter Dinge zu sein; das war wichtig. Ich machte mir klar, daß Caprus ein sehr mutiger Mann sein mußte. Ich hatte seinen Mut und seine Arbeit bisher viel zu gering eingeschätzt. Er hatte viel riskiert, wahrscheinlich mehr als ich. Ich schämte mich. Er war nur ein Schriftgelehrter, doch seine Taten hatten einen Mut erfordert, den wahrscheinlich mancher Krieger nicht aufgebracht hätte.