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Helene versuchte ihre Hände loszumachen. Sie fragte es kaum, eher stellte sie es fest: Mit Arthur.

Martha legte ihrer Schwester den Zeigefinger auf die Lippen. Nicht traurig sein.

Helene schüttelte den Kopf, obwohl sie traurig war. Sie riss die Augen weit auf, sie würde nicht weinen. Selbst wenn sie hätte weinen wollen, es ging nicht. Martha strich über Helenes Haar. Engelchen, wir treffen ihn am alten Weinberg hinter der Bahnlinie. Wenn Martha glücklich war und aufgeregt, gluckste ihr Lächeln in der Kehle. Er wird Botanik studieren in Heidelberg. Dort kann er bei seinem Onkel wohnen.

Und du?

Ich werde seine Frau.

Nein.

Das Nein kam schneller über Helenes Lippen, als sie es denken konnte, es platzte heraus. Sie fügte leise hinzu: Nein, das wird nicht möglich sein.

Nicht möglich sein? Alles ist möglich, Engel, die Welt steht uns offen. Frohlockend strahlte Martha, aber Helene kniff die Augen zusammen und schüttelte beharrlich den Kopf.

Vater wird es nicht erlauben.

Vater wird keinen Mann an meiner Seite erlauben. Martha ließ Helenes Hände los und musste trotz ihrer Einsicht lachen. Er liebt mich.

Vater oder Arthur?

Arthur natürlich. Vater besitzt mich. Er kann mich nicht hergeben. Selbst wenn er wollte, er kann es einfach nicht. Er wird mich niemandem überlassen.

Dem gewiss nicht.

Martha drehte sich auf den Rücken, sie faltete ihre Hände, als wollte sie beten. Gott, was bleibt ihm anderes übrig? Ich habe zwei Beine, mit denen gehe ich davon. Und eine Hand, die gebe ich Arthur. Warum bist du so streng, Helene, so ängstlich? Ich weiß, was du denkst.

Was denke ich?

Du glaubst, es wäre wegen Arthurs Familie, du glaubst, Vater hegt gewisse Vorbehalte. Aber das ist nicht wahr. Warum auch, sie gehen nicht einmal ins Bethaus. Manchmal redet Vater schlecht über diese Leute, aber bemerkst du dann nicht sein Lächeln, er macht sich freundlich lustig, so, wie wenn er dich Dreckspatz nennt, Engelchen. Er hätte Mutter nicht geheiratet, wenn er so denken würde, wie er spricht.

Er liebt Mutter.

Hat er dir erzählt, wie sie sich kennengelernt haben? Helene schüttelte den Kopf und Martha fuhr fort. Wie er nach Breslau gereist ist und dort das Fräulein Steinitz mit ihren auffallenden Hüten in der Druckerei entdeckte. Apart war sie, sagt er, ein apartes Fräulein mit einem zyanfarbenen Mantel. Den hat sie heute noch. Jeden Tag trug sie einen anderen Hut.

Apart, sagte Helene vor sich hin. Das Wort klang wie eine Praline, es sollte etwas Edles bezeichnen, und doch schmeckten Pralinen nur bitter.

Ihr Onkel war Hutmacher und sie sein liebstes Modell. Keines dieser heute unansehnlichen Filzbündel darf weggeworfen werden. Einmal habe ich gehört, wie Vater ihr vorhielt, sie sei in den Onkel verliebt gewesen, deshalb könne sie sich von den Filzbündeln nicht trennen. Da hat Mutter nur gelacht, so gelacht, dass ich dachte, es stimmt, was Vater vermutet. Meinst du, es hat ihn interessiert, dass sie Jüdin ist?

Helene sah Martha ungläubig an, sie kniff die Augen zusammen. Das ist sie nicht. Zur Bekräftigung schüttelte Helene den Kopf. Nicht richtig.

Du merkst es nicht, weil sie keine Perücke trägt. Und in welche Synagoge sollte sie gehen? Sie trennt kein Geschirr, das Kochen überlässt sie dem Mariechen. Aber natürlich ist sie eine. Du glaubst, sie wird in Bautzen die Fremde genannt, weil sie mit Breslauer Akzent spricht. Glaubst du das? Glaubst du, das ist Breslauer Akzent? Ich glaube das nicht, es ist die Sprache ihrer Sippschaft. Sie benutzt all die Worte, die dir vertraut erscheinen, von denen du nicht einmal ahnst, dass sie sie erkennbar machen.

Martha, wie redest du denn? Noch immer schüttelte Helene langsam und beharrlich den Kopf, so als könnte sie damit Mar thas Worte stillen.

Ist doch wahr. Sie muss uns nichts vormachen. Was glaubst du, warum sie nie mit in die Kirche kommt? Einen großen Bogen macht sie um den Dom.

Das liegt an dem Fleischmarkt. Sie sagt, die Fleischbänke riechen übel. Helene wollte, dass Martha schwieg.

Aber Martha ließ sich nicht aufhalten. Wenn wir Weihnachten mit Vater zum Gottesdienst gehen, dann behauptet sie, einer müsste ja das Essen vorbereiten. Von wegen. Warum muss sie ausgerechnet Weihnachten das Essen vorbereiten? Weil sie dem Mariechen freigeben will, weil sie so ein großes Herz hat — weil sie schlicht mit Weihnachten in der Kirche und unserem Gott nichts am Hut hat, Engelchen. Ist dir das nie aufgefallen, nein?

Helene stützte ihren Kopf auf die Hand, so, wie sie es bei Martha sah. Hast du mit ihr darüber gesprochen?

Natürlich. Sie sagt, es geht mich nichts an. Ich sage ihr, wenn ich heiraten möchte, findet man sie in keinem Kirchenregister, und mir fehlt ihr Familienbuch und somit die Hälfte meines eigenen. Rate, was sie geantwortet hat? Ich soll nicht frech werden. Wenn ich so weitermachte, dann wollte mich nie einer heiraten.

Helene betrachtete Martha und wusste, dass die Mutter log. Martha war mindestens so schön wie die Mutter, sie hatte deren schmale schöne Nase, die weiße Haut mit den Sommersprossen und ihre geschwungene Hüfte. Wen interessierte schon ein Familienbuch?

Martha sagte, es nütze nichts, wenn das Mariechen ihnen die Stiche zeigte, mit deren Hilfe sie ihre Initialen in Leinen sticken konnten. Der Makel war die Herkunft, nicht das Initial.

Das Mariechen galt auch unter ihren wendischen Verwandten als Meisterin der Handarbeitskunst. Obwohl die Frauen häufig an die Tür in der Tuchmacherstraße klopften und Spitzentücher und Hauben und Decken bei Mariechen in Auftrag geben wollten, lehnte das Mariechen diese Bitten ab. Sie befinde sich in fester Anstellung, antwortete sie mit einem treuen Lächeln. Nur selten verschenkte sie einer Schwester, Base oder Nichte etwas. Die meisten Spitzen und Deckchen, die das Mariechen in freien Minuten häkelte und bestickte, blieben im Hause. Ihre unbedingte Treue schuf eine sonderbare Allianz zwischen der Wendin Marja und ihrer Dame, Frau Selma Würsich. Vielleicht teilten sie einfach die Liebe zu Stoffen?

Helene betrachtete Martha. Sie erkannte keinen Makel. Martha schien ihr vollkommen. Die feinen Züge ihres Gesichts zogen keineswegs allein Arthurs Blicke auf sich. Wenn Helene mit Martha über den Kornmarkt ging, dann sahen ihr nicht nur die jungen Männer nach und pfiffen fröhlich, wünschten einen guten Tag. Auch die alten Männer übten Laute, die wie Ächzen und Grunzen klangen. Marthas Schritte waren leicht und lang, den Rücken hielt sie gerade und stolz, so dass man ihr mit Achtung begegnete, zumindest war es das, was Helene empfand. Die Männer schnalzten und schmatzten, als schmeckten sie Sirup auf der Zunge. Selbst die Marktfrauen sprachen Martha mit Schönes Fräulein und Tausendschönchen an. Es fanden sich von Tag zu Tag mehr Männer in der Nähe des kleinen Druckhauses in der Tuchmacherstraße ein, die Martha heiraten wollten. Stand Martha hinter der Theke im kleinen Ladenbereich und half aus, versammelten sich dort im Laufe des Nachmittags einige junge Männer, die sich verschiedene Papiere und Druckbilder zeigen ließen, sich aber selten entscheiden konnten. Sie wägten ab, kamen miteinander ins Gespräch, mit unverhohlenen Blicken in Marthas Richtung prahlten sie über ihre eigenen Geschäfte und Studien und umwarben Martha, so gut sie konnten. Erst wenn einer sich traute und sie fragte, ob er sie einmal zum Kaffee einladen dürfte, und sie lachend ablehnte, sie gehe niemals mit Kunden einen Kaffee trinken, rückte die Entscheidung für einen kleinen Druckauftrag näher. Aber sie kamen wieder, die Männer, sie bewachten einander, jeder Einzelne achtete darauf, dass kein anderer höher in Marthas Gunst stünde als er selbst. Helene konnte die Männer gut verstehen, nur wollte sie gern allein ein Leben lang neben der schönen Martha einschlafen und aufwachen. Die Ehe mit einem Mann erschien Helene völlig sinnlos und unnötig. Eine Heirat war das Allerletzte.