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Bei ihrer Rückkehr sprachen sie mit Helene kein Wort über den Besuch bei der Lehrerin. Es wirkte, als sei ihnen Helene peinlich.

Helene wollte gern in der Schule bleiben, sie hatte kleine und erhebliche Zweifel an dem Traum, den Martha für sie ersponnen hatte. Niemals hatte einer der Eltern das Wort Heidelberg oder Studium in den Mund genommen. Helene wollte keinesfalls vorzeitig aus der Schule nach Hause zur Mutter geschickt werden und deren Mottengespinste aus den Schränken sammeln.

Was willst du einmal werden? Manchmal fragte Martha Helene das.

Dabei kannte sie die Antwort, es war immer dieselbe: Ich werde Krankenschwester, wie du. Helene drückte ihre Nase an Marthas Schulter und sog den Duft ihrer Schwester ein. Martha duftete wie ein Brötchen und nur wenig nach dem Essig, mit dem sie sich bei Dienstschluss die Hände abrieb. Helene beobachtete Marthas Lächeln. Freute sich Martha über Helenes zuverlässige Antwort? Schmeichelte es ihr, dass die Kleine vorgab, dasselbe zu wollen wie sie? Doch im nächsten Augenblick erkannte Helene, dass Marthas Lächeln nicht zu Helenes Antwort gehörte. Martha strich über die goldgeprägten Buchstaben auf dem Einband.

Was für ein Geschenk.

Lass mich sehen.

Schließ die Augen, so, ja. Du kannst blind lesen.

Helene spürte, wie Martha ihre Hand nahm, doch anstatt sie zu dem Buchdeckel zu führen, fühlte sie Marthas Bauch, ihren Bauchnabel, der schon in einer kleinen Grube lag, im Gegensatz zu Helenes, der wie ein Knopf vorstand. Helene kniff beide Augen fest zusammen und spürte, dass Martha ihren Finger nahm und ihn in die Höhle des Bauchnabels drückte.

Und, was kannst du entziffern?

Helene fühlte die leichte Wölbung von Marthas Bauch. Wie weich Marthas Haut war. Im Gegensatz zum Bauch der Mutter, der sich vor allem unterhalb des Nabels in die Breite zog, hatte Martha einen schönen Bauch, der sich nur sanft der Länge nach andeutete, Helene ertastete Marthas Rippen und dachte an die goldenen Buchstaben auf dem senffarbenen Buch, die sie längst heimlich entziffert hatte. Byron stand da. Also sagte sie: Byron.

Byron. Martha verbesserte Helenes Aussprache. Lass die Augen zu und lies weiter.

Helene hörte an Marthas Stimme, dass Martha von ihren blindlesenden Fähigkeiten begeistert war. Lies weiter, forderte Martha sie ein zweites Mal auf. Und Helene spürte, wie Martha ihre Hand nahm und Helenes Hand über ihren Bauch führte, kreisend, wie sie Helenes Hand über ihre Hüfte führte, streichend. Lies.

Vermischte lyrische Gedichte.

Helene hatte sich die goldenen Buchstaben gemerkt und dachte seit geraumer Zeit darüber nach, was wohl lyrische Gedichte sein mochten. Doch dann nahm Martha Helenes Hand und legte sie auf den untersten Rippenbogen.

Kannst du auch unter die Haut blicken, Engelchen? Weißt du, was hier unter den Rippen liegt? Hier liegt die Leber.

Schwesternwissen. Merk dir das gut, das musst du später alles lernen. Und hier sitzt die Galle, dicht daneben, ja. Helene lag das Wort Milz auf den Lippen, sie wollte es nicht sagen, nur die Augen wollte sie öffnen, aber Martha bemerkte es und befahclass="underline" Lass die Augen zu.

Helene spürte, wie Martha ihre Hand nahm und sie zum anderen Rippenbogen führte und wie sie sie schließlich höher hinauf schob, zu ihrer Brust.

Obwohl sie die Augen fest verschlossen hielt und sie nicht sehen konnte, was sie fühlte, bemerkte Helene, wie ihr Gesicht plötzlich heiß wurde. Martha führte ihre Hand, und Helene fühlte deutlich die Spitze der Brust, das Feste, das Weiche, die vollkommene Rundung. Hinab ins Tal, wo sie einen Knochen spürte.

Rippchen.

Martha antwortete nicht mehr, schon ging es den anderen Hügel hinauf. Helene blinzelte, aber Marthas Augen prüften sie nicht mehr, sie wanderten ziellos unter den halb geschlossenen Lidern, entzückt, und Helene sah, wie sich Marthas Lippen leicht öffneten, bewegten.

Komm her.

Marthas Stimme kratzte, sie zog mit der anderen Hand Helenes Kopf zu sich und drückte ihren Mund auf Helenes Mund. Helene erschrak, sie spürte Marthas Zunge an ihren Lippen, die fordernd war, sie hatte sich nicht vorstellen können, wie rau und glatt Marthas Zunge auf ihren Lippen sein würde. Es kitzelte, fast musste Helene lachen, doch Marthas Zunge wurde fest und bedrängte Helenes Lippen, als suchte sie etwas. Die Zunge öffnete Helenes Lippen und stieß gegen ihre Zähne, Helene musste atmen, sie wollte Luft holen, sie öffnete die Lippen und schon füllte Marthas Zunge ihren Mund aus, ganz und gar. Helene spürte, wie sich Marthas Zunge in ihren Mund wühlte, sich hin und her bewegte, innen gegen die Wangen stieß und dabei ihre eigene Zunge schob und drängte, Helene dachte an den letzten Spaziergang zur Spree und wie Martha ihr befohlen hatte, einige Schritte hinter ihr und Arthur zu laufen, und bemerkte plötzlich, dass ihre Hand nun allein auf Marthas Brust lag und Marthas Hände sich längst in ihren Haaren bewegten und auf ihrem Rücken.

Sie waren zu der versteckten Mole hinter dem Weinberg gegangen, die man nur durch Weiden erreichen konnte. Der Boden war schwarz und glitschig. Komm, rief Martha einige Meter entfernt und lief mit Arthur voraus. Sie sprangen von Baumstumpf zu Baumstumpf, der Boden rutschte, gab nach, die nackten Füße sanken ein. Überall gluckste Wasser, das in kleinen Tümpeln stand. Schwärme winziger Mücken surrten. Hier in der Biege des Flusses hatte sich die Spree eine kleine Bucht geschaffen, ein Land, das nicht mehr fest war und von kaum einem Spaziergänger je betreten wurde. Sumpfdotterblumen blühten, wohin man sah. Der Kranz aus Gänseblümchen, den Martha für Helene auf der Wiese am Hang geflochten hatte, drohte Helene vom Kopf zu rutschen, sie hielt ihn mit einer Hand fest, mit der anderen hielt sie die Schuhe und hob das Kleid, damit es nicht schmutzig wurde. Es war schwer zu erkennen, wo der Boden fest war, immer wieder gab er nach, und so schnell sie auch liefen, die Zehenspitzen zuerst, waren die Füße doch bald bis zum Knöchel und zur Wade schwarz. Die schwertförmigen Blätter der Lilien schimmerten silbrig in der Sonne.

Arthur hatte hinter einer Weide einen Badeanzug angezogen und war als erster ins Wasser gerannt, hatte sich in die Strömung geworfen und ruderte wild mit den Armen, um sich nicht flussabwärts treiben zu lassen. Es sah aus, als bewegte er sich auf der Stelle. Der Wind fuhr durch das Schilf, es wogte und beugte sich zum Wasser hin. Im nächsten Augenblick blähte der Wind, die grüngelben Zweige, Halme stülpten Bäuche und verneigten sich. Das Rauschen brandete an Helenes Ohren. Obwohl Arthur immer wieder nach ihnen rief, konnte Martha sich nicht entschließen. Sie besaß keinen Badeanzug, im letzten Jahr war sie so schnell gewachsen, dass ihr der alte nicht mehr passte.

Wir lassen das Unterkleid an und gehen nur mit den Füßen ins Wasser.

Martha und Helene zogen ihre Kleider aus und hängten sie über den Ast einer niedrigen Weide. Das Wasser war eiskalt, die Kälte zog in den Waden. Als Arthur ans Ufer kam und sie nass spritzen wollte, flohen die Mädchen. Martha kreischte und lachte, sie rief ein ums andere Mal Helenes Namen. Arthur wollte sich mit Martha flussabwärts am Fuß des Hanges ins Gras legen, aber Martha fasste Helenes Hand und sagte, sie könne ohne ihre kleine Schwester nirgendwo hin. Womöglich gäbe es Grasflecken, wenn sie sich mit den Unterkleidern dort hinlegten. Arthur sagte, sie könne sich auf seine Jacke setzen, Martha lehnte das ab. Sie zeigte auf ihren Mund und ließ Arthur hören, wie laut ihre Zähne klapperten.

Ich wärme dich. Arthur legte seine Hände auf Marthas Arme, er wollte sie streicheln und reiben, aber Martha klapperte jetzt so laut mit den Zähnen, wie nur sie das konnte.

Arthur brachte Martha ihr Kleid. Er forderte sie auf, sich wieder anzuziehen, und Martha dankte ihm.

Später saßen die beiden Schwestern dicht aneinandergedrängt am Hang. Arthur hatte etwas oberhalb kleine Erdbeeren entdeckt und krabbelte nun auf allen vieren durch die Wiese. Von Zeit zu Zeit kam er zu den Mädchen, kniete sich vor Martha hin und reichte ihr auf einem Weinblatt eine Handvoll Beeren.