Kaum hatte er sich wieder entfernt, nahm Martha die Beeren und steckte abwechselnd Helene und sich selbst eine in den Mund. Sie ließen sich rückwärts ins Gras fallen und betrachteten die Wolken. Der Wind hatte sich um sie gelegt, nur einen zarten Hauch von Holz trug er vom Sägewerk zu ihnen herauf. Helene sog den Holzgeruch ein, süßer Duft irgendwelcher Blüten mischte sich darunter. Martha entdeckte einen Husaren, dessen Pferd bloß Vorderbeine hatte, und selbst die verschwanden bei längerem Hinsehen. Während es hier unten nahezu windstill schien, zogen die Wolken oben immer schneller gen Osten. Helene wollte einen Drachen erkennen, aber Martha sagte, ein Drache habe Flügel.
Kein Wunder, dass alle Welt von Mobilisierung spricht, rief Arthur herab. Wenn man euch da so liegen sieht, fällt das Beerensammeln gar nicht schwer!
Die Schwestern tauschten einen vielsagenden Blick. Arthur ging es um ihre Nähe und um keine Mobilisierung, da waren sie sicher. Keine von beiden hatte eine Vorstellung, was Arthur mit Mobilisierung meinte. Sie vermuteten, dass er über diesen Begriff ähnliche Rätsel anstellte wie sie selbst. In Fetzen trug der Wind sein Pfeifen zu ihnen, er pfiff einen fröhlichen Marsch. Wer sollte schon wofür in einen Krieg ziehen? Gab es einen herrlicheren Ort als das Spreeufer und eine größere Zuversicht, als die Sonne sie mit ihrer Wärme seit Monaten ausstrahlte? Die Ferien würden kein Ende nehmen, niemand würde dem Aufruf zur Mobilisierung folgen.
Mehr gibt es nicht, sagte Arthur, als er nach längerer Zeit mit zwei vollen Händen Walderdbeeren kam und sich vor die Schwestern setzte. Nimmst du sie? Er streckte seine Hände Martha entgegen, die Beeren kullerten und drohten ins Gras zu fallen.
Nein, ich möchte nicht mehr.
Vielleicht du.
Helene schüttelte den Kopf. Einen Augenblick schaute Arthur unschlüssig auf seine Hände.
Teuerste. Er flehte Martha lachend an. Sie sind für dich.
Von wegen, wir füttern das Engelchen.
Martha hielt ihre Hände auf und übernahm die Erdbeeren von Arthur, einige fielen auf die Wiese.
Pack sie. Martha deutete mit dem Kopf zu Helene. Arthur folgte ihrem Befehl, er warf sich auf Helene, zwang sie unter sich und kniete fest auf ihrem kleinen Körper, mit seinen starken Händen drückte er ihre Arme zu Boden. Während Arthur und Martha lachten, kämpfte Helene, sie ballte ihre Fäuste, sie rief, dass man sie loslassen solle. Helene wollte ihr Rückgrat durchbiegen, um Arthur von sich zu schütteln, aber er war schwer, er lachte und war so schwer, dass ihr Rücken unter der Spannung nachgab. Martha drückte nun eine Beere nach der anderen zwischen Helenes Lippen. Helene presste ihre Lippen aufeinander, so fest es ging. Der Saft rann aus ihren Mundwinkeln das Kinn und den Hals entlang. Helene versuchte mit geschlossenem Kiefer zu betteln, man sollte sie in Ruhe lassen. Martha stopfte jetzt die kleinen Beeren in Helenes Nase, dass sie kaum noch Luft bekam und der Saft im Innern der Nase brannte. Martha zerquetschte die Beeren auf Helenes Mund, auf ihren Zähnen, quetschte sie, dass die Haut rund um Helenes Mund vom süßen Saft der Beeren juckte, bis Helene den Mund öffnete und mit ihrer Zunge nicht nur die Erdbeeren von den Zähnen, sondern auch Marthas Finger ableckte, die ihr in den Mund geschoben wurden.
Das kitzelt, Martha lachte, das fühlt sich an, wie, wie, fühl mal.
Schon spürte Helene Arthurs Finger in ihrem Mund. Sie dachte nicht nach, sie biss einfach zu. Arthur schrie und sprang auf.
Er war einige Meter davongerannt.
Bist du verrückt? Voller Entsetzen hatte Martha Helene angesehen, das war doch Spaß.
Jetzt, da Helene Marthas Zunge in ihrem Mund fühlte, überlegte sie, ob sie zubeißen sollte. Aber sie konnte nicht, etwas gefiel ihr an Marthas Zunge, und zugleich schämte sich Helene.
Martha rüttelte sie wach. Es war noch dunkel, Martha hielt eine Kerze. Die Mädchen sollten dem Vater ins Nebenzimmer folgen. Dort lag die Mutter steif auf dem Bett. Ihre Augen waren stumpf, kein Blick schien ihnen mehr zu entkommen. Helene wollte ein Blinzeln erkennen, sie stützte sich mit den Fäusten auf das Bett und beugte sich über die Mutter, aber die Augen der Mutter blieben reglos.
Ich sterbe, sagte die Mutter mit leiser Stimme.
Der Vater schwieg, er sah ernst aus. Unruhig fingerte er am Knauf seines Krummsäbels. Keinen Tag länger wollte er über den Sinn des Krieges und seine Aufgabe darin sprechen. In der Kaserne am Stadtrand wurde er seit letzter Woche erwartet, das Regiment duldete keine Verspätung. Es gab weder Aufschub noch Entrinnen. Dass seine Frau angesichts des Abschiedes das Sterben vorzog, überraschte Ernst Ludwig Würsich nicht. Schon häufig hatte sie mit dem Gedanken gespielt, ihn laut und leise für sich und andere ausgesprochen. Jedes Kind, das sie nach Marthas Geburt verloren hatte, war ihr als Aufforderung erschienen, ihrem Leben ein Ende zu setzen. Das Pendel der Wanduhr zerschlug die Zeit in kleine zählbare Einheiten.
Behutsam näherte Helene sich der Hand der Mutter, sie wollte sie küssen. Die Hand bewegte sich, sie wurde fortge zogen. Helene neigte sich über das mütterliche Gesicht. Aber ohne ihr einen ihrer befremdlichen Blicke zu schenken, wandte die Mutter den Kopf. Ihre vier totgeborenen Kinder sollten Jungen gewesen sein. Einer nach dem anderen war gestorben, zwei noch im Mutterleib, die anderen beiden kurz nach der Geburt. Jedes von ihnen hatte bei der Geburt schwarzes Haar, dichtes, langes, schwarzes Haar und eine dunkle, fast blaue Haut. Der vierte Sohn hatte am Morgen seiner Geburt geröchelt, mühsam geröchelt, es hatte geklungen, als atme er tief ein, dann ist es still gewesen. Ganz so, als könnte die Luft seinen kleinen Körper nicht mehr verlassen. Dabei hatte er gelächelt, wo doch sonst Säuglinge nicht lächeln. Die Mutter hatte das tote Kind Ernst Josef genannt, sie hatte das tote Kind in ihren Arm geschlossen und über Tage nicht loslassen wollen. Es lag in ihren Armen mit ihr im Bett und wenn sie zum Häuschen musste, nahm sie es mit. Mariechen hatte Martha und Helene später davon erzählt, wie sie vom Vater beauftragt worden war, nach dem Rechten zu sehen, und wie sie ins Zimmer der Mutter getreten war, wo die Mutter mit offenem Haar am Bettrand gesessen und ihr totes Kind gewiegt hatte. Nach Tagen erst hörte man sie beten und sei erleichtert gewesen. Die Mutter hatte für Ernst Josef ein langes Kaddisch gesprochen. Obwohl es niemanden gab, der Amen sagte, niemanden, der mit ihr trauerte. Der Vater und das Mariechen waren in Sorge um sie, keiner von ihnen weinte um das tote Kind. Wann immer jemand in den folgenden Tagen die Mutter ansprach, etwas zu ihr sagte, sie etwas fragte, wurde ihre Stimme lauter, ein Gemurmel, ein Sprechen, so schien es, als spreche sie ununterbrochen vor sich hin und werde das Sprechen nur bis zur Unhörbarkeit leise in den Stunden, in denen niemand das Wort an sie richtete. Bis heute hörte man sie jeden Tag beten. Die fremden Laute aus dem Mund der Mutter klangen wie eine ausgedachte Sprache. Helene konnte sich nicht vorstellen, dass die Mutter wusste, was sie da sprach. Die Worte hatten etwas Einschließendes und Abschließendes, sie besaßen in Helenes Ohren keinerlei Bedeutung und schirmten das Haus doch ab, ruhten wie ein Schweigen über dem Haus, ein geräuschvolles.
Wenn das Mariechen am Morgen die Gardinen aufzog, zog die Mutter sie wieder zu. Seither gab es lediglich ein, zwei Monate im Jahr, in denen die Mutter aus ihrer Dunkelheit erwachte, ihr fiel ein, dass sie ein lebendiges Kind hatte, ein Mädchen namens Martha, mit dem wollte sie spielen, albern, als sei sie selbst ein Kind. Es war Ostern und da kam der Mutter das Eierschieben auf dem Protschenberg gelegen. Die Mutter wirkte aufgekratzt, sie trug einen ihrer federbesetzten Hüte. Sie warf ihren Hut wie eine Wurfscheibe in die Luft und ließ sich ins Gras fallen, sie rollte über die Wiese den Hang hinab und blieb unten liegen. Martha lief hinterher. Aus sicherem Abstand schauten Damen und Herren mit Sonnenschirmen her über, sie wunderten sich nicht mehr über die Fremde, verärgert über den Anblick schüttelten sie den Kopf und wandten sich ab, ihre Eier mussten ihnen wichtiger erscheinen als jene Frau, die soeben den Hang herabgerollt war. Marthas Vater war seiner Frau und der Tochter gefolgt, er beugte sich zu seiner Frau und hielt ihr die Hand, damit sie aufstehe. Die damals achtjährige Martha hielt die andere Hand der Mutter. Die Mutter stieß ihr kehliges Lachen aus, sie sprach davon, dass sie seinen Gott mehr liebe als ihren, die beiden aber ein und derselbe seien, nämlich kein anderer als der gemeinsame Spuk einiger wahnfreudiger Erdbewohner, Menschenwürmer, die seit Jahrhunderten und Jahrtausenden einen Großteil ihres Lebens mit dem Nachdenken über eine plausible Rechtfertigung ihres Daseins zubrächten. Seltsame Eigenart dieser Lebewesen, lächerlich.