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Um sie zu beruhigen, brachte Ernst Ludwig Würsich seine Frau nach Hause.

Martha wurde dem Hausmädchen anvertraut, und der Mann setzte sich zu seiner Frau ans Bett. Niemals erwarte er von seiner Frau Respekt für seine Person, das sagte er sanft, einzig für Gott bitte er sie um Schweigen. Er streichelte seiner Frau über die Stirn, Schweiß rann ihre Schläfe herab. Ob ihr warm sei, wollte der Mann wissen und half seiner Frau, das Kleid auszu ziehen. Vorsichtig strich er über ihre Schultern und Arme. Er küsste das Rinnsal an ihrer Schläfe. Gott sei barmherzig und gerecht. Gleich darauf wusste er, dass er etwas Falsches gesagt hatte. Denn seine Frau schüttelte den Kopf und flüsterte: Ernst Josef. Erst als er Sekunden später ihren Mund mit einem Kuss verschließen und besänftigen wollte, vollendete sie ihren Satz flüsternd: War einer von vieren. Wie kannst du einen Gott barmherzig und gerecht nennen, der mir vier Söhne genommen hat?

Tränen flossen aus ihren Augen. Der Mann küsste ihr Gesicht, er küsste ihre Tränen, er trank ihr Unglück und legte sich zu ihr ins Bett.

Schon am selben Abend sagte sie zu ihrem Mann: Das war das letzte Mal, ich möchte keinen Sohn mehr verlieren. Sie musste ihn nicht fragen, ob er sie verstand, denn er verstand sie, obgleich es ihm nicht gefiel.

Fast zehn Monate später wurde ein Kind geboren. Groß und schwer und weißhäutig mit einem rosigen Schimmer, ein kahler Kopf mit riesigen Augen, die binnen weniger Wochen in einem Blau erstrahlten, das die Mutter erschreckte. Das Kind war ein Mädchen, seine Mutter erkannte nichts an ihm. Und als der Vater seine Tochter zum Pfarrer bringen wollte, wählte das Mariechen den Namen für das Kind. Helene.

Die Mutter hatte keine Augen für Helene, sie wollte das Kind nicht auf den Arm nehmen und konnte es nicht an sich drücken. Das Kind schrie, während es wuchs, magerte es ab, es vertrug die Ziegenmilch nicht und spuckte mehr, als es trinken wollte. Um es zu beruhigen, legte das Mariechen das Kind an ihre Brust, aber die Brust war alt, sie hatte noch nie nach Milch geduftet und konnte keine Milch geben, das Kind schrie. Eine Amme wurde gefunden, die Helene an die Brust nahm. Das Kind trank, es wurde wieder schwer und rund. Seine Augen schienen von Tag zu Tag heller zu werden, und das erste Haar spross, weißgoldener Flaum. Die Mutter lag reglos im Bett, sie wandte ihr Gesicht ab, wenn man ihr das Kind brachte. Wenn sie von dem Kind sprach, nannte sie nicht seinen Namen, auch mein Kind kam ihr nicht über die Lippen. Sie sagte: Das Kind.

Helene wusste von diesen ersten Jahren. Sie hatte gehört, wie sich das Hausmädchen mit Martha darüber unterhalten hatte. Die Mutter wollte von keinem Gott mehr etwas hören. Sie hatte sich in dem Haus ein Zimmer angeeignet, ein Zimmer für sich allein, dort schlief sie in einem schmalen Bett unter Flederwischen und sprach vom Geleit der Seelen. Wenn Helene abends in Marthas Bett lag, Sommersprossen zählte und ihre Nase in Marthas Rücken drückte, geschah es immer häufiger, ohne Absicht, dass sie jenen Blickwinkel einnahm, der wohl einzig einem Gott vorbehalten war. Sie stellte sich die vielen kleinen aufrechten Wesen vor, die über den Erdball krabbelten und sich Bilder von ihm machten, Namen für ihn erdachten, Schöpfungsgeschichten. Der Gedanke lächerlicher Erdwürmer, wie die Mutter sie nannte, erschien ihr einerseits plausibel, andererseits empfand sie Mitgefühl für diese Wesen, die doch auf ihre Weise nichts anderes taten als die Ameisen und die Lemminge und die Pinguine. Sie sorgten für Hierarchien und Strukturen, die ihrer Art, dem Grübeln und Zweifeln, entsprachen und beides in sich einfassten, weil ein Mensch ohne seinen Zweifel nicht vorstellbar war. Sie wusste, wie empfindlich der Vater auf diese Gedanken reagierte. Und insbesondere, wenn die Mutter lachend darüber sprach, dass sie mit allen Seelen, er möge es Gott nennen, eine Nacht verbracht habe und sich nun, da sie einen Sohn unter dem Herzen trage, selig fühle, weshalb sie bald mit den Seelen gehen wolle, ihr Fleisch mit den Seelen, für immer, wurde der Vater ernst und stumm. Helene hörte, wie ein Freund, der Bürgermeister Koban, auf den Vater einredete, er solle die Mutter in eine Anstalt bringen. Aber der Vater wollte nichts davon wissen. Er liebte seine Frau. Ihn quälte die Vorstellung einer Anstalt, mehr als ihr Rückzug. Es störte ihn nicht, wenn sie sich viele Monate im Jahr in den abgedunkelten Räumen des Hauses aufhielt und keinen Fuß auf die Tuchmacherstraße setzte.

Selbst als die Wege im Haus eng geworden waren, weil seine Frau in ihren wenigen wachen Monaten von draußen unaufhörlich Dinge ins Haus schleppte, um sie zu sammeln und ihnen auf verschiedenen Haufen einen Platz zu geben, Haufen, die sie mit unterschiedlich farbigen Tüchern bedeckte, war dem Vater dieses Leben mit seiner Frau lieber als die Aussicht, ohne sie zu leben.

Hatte er sich früher noch gegen das Auflesen und Ansammeln gesträubt, ihr hier und dort geraten, einen Gegenstand aus dem Haus zu entfernen, worauf sie ihm lang und breit die Verwendung für den Gegenstand erklärte, es konnte ein besonders angelaufener Kronkorken sein, von dem sie sich das Beobachten einer Metamorphose versprach, so befragte er seine Frau in den letzten Jahren nur nach dem Zweck eines Dings, wenn ihm der Sinn nach einer Liebeserklärung stand. Ihre Liebeserklärungen zu den gemeinhin überflüssig und wertlos erscheinenden Dingen waren die aufregendsten Erzählungen, die Ernst Ludwig Würsich kannte.

Einmal saß Helene in der Küche und half dem Mariechen beim Einwecken der Stachelbeeren.

Wo sind die Apfelsinenschalen, die ich zum Trocknen in die Kammer gehängt habe?

Verzeihung, gnädige Dame, beeilte sich das Hausmädchen zu sagen, sie liegen in einer Zigarrenschachtel in der Kammer. Wir brauchten den Platz für die Holunderblüten.

Holunderblüten, Tee! Verächtlich blähte die Mutter ihre Nasenflügel. Das riecht nach Katzenurin, Mariechen, wie oft habe ich das schon gesagt? Pflück Minze, trockne Schafgarbe, aber keine Holunderblüten.

Mein Täubchen, mischte sich jetzt der Vater ein. Was möchtest du mit den Apfelsinenschalen anstellen? Sie sind schon vertrocknet.

Ja, sie erinnern an Leder, findest du nicht? Die Stimme der Mutter wurde samtig, sie geriet ins Schwärmen. Apfelsinenschalen, in einer sich windenden Schlange von der Frucht geschnitten und zum Trocknen aufgehängt. Ist der Duft in der Kammer nicht berauschend? Und wie sie sich drehen, wenn man sie an einem Faden über den Ofen hängt — das ist einfach zu schön. Warte, ich zeigs dir. Und schon stürmte die Mutter wie ein junges Mädchen zur Kammer, suchte die Zigarrenkiste und nahm mit vorsichtigen Händen die Apfelsinenschalen heraus. Wie Haut, findest du nicht? Sie nahm seine Hand, damit er die Apfelsinenschale streichelte, er sollte sie ebenso streicheln wie sie, damit er fühlte, was sie fühlte, damit er wusste, wovon sie sprach. Die Haut einer jungen Schildkröte.

Helene beobachtete, wie zärtlich ihr Vater seine Frau ansah, er verfolgte, wie sie mit den Fingern über die getrocknete Schale der Apfelsine strich, sie an ihre Nase hob, die Lider senkte, um ihre Nüstern zu blähen und daran zu riechen, und offensichtlich wollte er ihr nicht sagen, dass die Zeit des Heizens vorbei war. Sie würde die Apfelsinenschalen bis zum nächsten Winter in der Zigarrenschachtel aufbewahren, bis zum übernächsten, für immer, niemand durfte etwas wegwerfen, und Helenes Vater wusste warum. Helene liebte ihren Vater für sein Fragen und Schweigen im richtigen Augenblick, sie liebte ihn, wenn er ihre Mutter ansah wie jetzt. Im Stillen dankte er gewiss Gott für diese Frau.