Knapp zwei Jahre nach Kriegsende schaffte es Ernst Ludwig Würsich endlich, sich zusammen mit einem aus Dresden stammenden und ebenfalls zurückkehrenden Pfleger auf den Heimweg zu machen. Es wurde ein mühsamer Weg, den er größtenteils auf einem Karren saß und von dem Pfleger gezogen wurde, einem Pfleger, der ihn je nach Tageszeit beschimpfte, morgens, weil er sich für die Unannehmlichkeiten entschuldigte, die er verursachte, mittags, weil er viel zu weit wollte und abends, weil er trotz fehlenden Beins wohl einige Kilo zu schwer wog.
Zu seiner Enttäuschung hatte man ihn aufgrund der Verspätung, mit der er sich erst Wochen nach Kriegsbeginn in der Kaserne gemeldet hatte, aus dem vier Jahre zuvor errichteten 3. Sächsischen Husaren-Regiment verwiesen. Wem hätte er anvertrauen können, dass seine Frau zu Hause sagte, sie liege im Sterben, und dass ihm ohne ihr Dasein der Sinn für jegliche Heldenhaftigkeit zu fehlen drohte? Doch was gewiss noch schlimmer wog, und weshalb er vielleicht mit niemandem über das drohende Sterben seiner Frau sprechen konnte: Es war keineswegs die erste Gelegenheit, die sie zu dieser Äußerung veranlasste. Obwohl er seit einigen Jahren mit ihren Worten im Ohr lebte, die Anlässe waren verschiedene, gab es keine Gewöhnung an diese äußerste Bedrohung. Auch pflegte er ein Bewusstsein dafür, wie wenig diese Worte irgendeiner Garnison etwas anhaben konnten und dem Befehl seines Staates zur unbedingten Gefolgschaft je als Grund zur Verweigerung gelten mochten. Vor einem Deutschen Reich, dem er den Einsatz seines Lebens schuldig war, erschien das drohende Sterben seiner Selma schlicht lächerlich und bedeutungslos.
Man hatte ihm bei der Ankunft in der Alten Kaserne am Stadtrand ohne Zögern die erst wenige Monate zuvor erworbene Husarenuniform und den Krummsäbel abgenommen und ihm gesagt, auf seinem Pferd sei nun schon ein anderer gen Frankreich geritten und habe bereits den Heldentod gefunden. Auch die Artillerie sei auf und davon, er solle sich in der neuen Infanterie-Kaserne melden. Immerzu war ihm auf diesen Wegen sein Hund, der alte Baldo, zwischen die Beine gelaufen. Er hatte ihn fortgeschickt, aber Baldo ließ sich nicht fortschicken, er wollte sein Herrchen einfach nicht allein lassen. Gott mit uns! Das hatte Ernst Ludwig Würsich seinem Baldo zugerufen und ihn mit ausgestrecktem Arm von sich fortgeschickt. Dass einer, der seinen Namen zu Ehren des Reichskanzlers Theobald von Bethmann Hollweg trug, sich bei dieser Losung nicht trennen konnte, war vielleicht gar nicht so unverständlich. Baldo senkte das Haupt und wedelte tief mit dem Schwanz. So hartnäckig verfolgte der Hund ihn von Kasernentor zu Kasernentor, dass Ernst Ludwig Würsich die Tränen kamen und er ihm mit der bloßen Hand Schläge androhen musste, damit er nach Hause zu seiner Frau lief, wo niemand auf ihn wartete. In der Infanterie-Kaserne händigte man dem Bürger Würsich, der bis eben noch Husar gewesen war, die sichtlich schon zu Ehren gekommene einfache Soldatenuniform aus und überlegte einige Wochen, in welche Himmelsrichtung man ihn schicken sollte. Mitte Januar sollte er nach Masuren aufbrechen. Das Schneetreiben ließ sie kaum vorwärts kommen. Während die Männer vor und hinter und neben ihm von Vergeltung und Rückschlag sprachen, sehnte er sich unter die wärmenden Gänsefedern im Bett der Bautzener Tuchmacherstraße. Zwar bestritt die Armee, der man ihn zugeteilt hatte, kurz darauf zwischen vereisten Äckern und zugefrorenen Seen die Schlacht, aber ehe Ernst Ludwig Würsich am Saum eines noch jungen und niedrigen Eichenwäldchens seine Waffe zum Einsatz bringen konnte, verlor er beim Angriff seiner Truppe durch eine fehlgezündete Handgranate seines unmittelbaren Nachbarn das linke Bein. Zwei Kameraden zogen ihn über das Eis des Löwentinsees und brachten ihn noch im Februar in ein Lazarett bei Lötzen, in dem er für die Dauer der verbleibenden Kriegsjahre vergessen und also von einer Heimkehr ausgeschlossen werden sollte.
Sobald er auf dem Krankenlager liegend durch den Schmerz hindurch zu einem Bewusstsein gelangte, ließ er seinen Talisman suchen; seine Frau hatte ihm den Stein an einem der Tage des Abschieds in die Hand gedrückt, zuerst wohl in der Hoffnung, der Talisman würde ihn bekehren und zum Dableiben verleiten, später, als er bereits den Säbel polierte, hatte sie ihm geraten, den Talisman als Heilsbringer anzusehen. Er fand sich in der Innentasche seiner Uniform eingenäht, ein Stein in der Form eines Herzens. Seine Frau wollte darin ein Lindenblatt erkannt haben, und er sollte den Stein auf jegliche Wunde legen, damit diese heile. Da ihm die Wunde unten am Rumpf nun aber zu groß erschien und er in den ersten Wochen nach dem Unglück den Blick hinab scheute, und erst recht jegliche Berüh rung mit dem weit unten befindlichen, wunden Fleisch vermied, legte er sich den Stein auf die Augenhöhle. Dort wog er schwer und kühlte angenehm.
Während der Stein auf seiner Augenhöhle lag, sprach sich Ernst Ludwig Würsich Worte des Trostes zu, Worte, die ihn an die Worte seiner Frau erinnerten, gute Worte, mein Lieber, und aufmunternde Worte, es wird wieder. Später nahm er den Stein in die Hand und drückte ihn fest und es war ihm, als presse er nicht nur seinen Schmerz, den beißenden Vertrauten, dessen Aufbäumen, weiß und gleißend, ihm immer wieder die Sicht nahm, und auch das Gehör, sondern auch seine letzte Kraft in den Stein und hauche ihm Leben ein. Zumindest ein klein wenig, so wenig und viel, dass der Stein ihm bald heißer als seine Hand erschien. Erst wenn der Stein geraume Zeit neben ihm auf dem Laken gelegen hatte, konnte er die Augenhöhle wieder kühlen. So verbrachte er Tage mit der einfachsten Handlung. Diese Tage erschienen ihm zuerst alles andere als dumpf, der Schmerz hielt ihn wach, er kratzte ihn auf, reizte ihn, dass er am liebsten gerannt wäre, mit beiden Beinen, er wusste genau, wie das Laufen ging. Niemals zuvor hatte er mit der jetzigen Leidenschaft an seine Frau gedacht, noch nie war ihm das Gefühl der Liebe so klar und rein und ohne jegliche Ablenkung und den leisesten Zweifel erschienen wie in jenen Tagen, in denen sein Handeln allein im Aufheben und Ablegen ihres Steines bestand.
Doch der Schmerz dauerte an, erschöpfte die Nerven und durch die Klarheit der ersten Tage zogen sich feine Risse, die Erkenntnis seiner reinen Liebe bröckelte, sie fiel in sich zusammen. Eines Nachts wachte er von den Schmerzen auf, konnte sich nicht nach links noch nach rechts drehen, der Schmerz war nicht mehr weiß und gleißend, er war flüssig geworden, schwarz, eine Lava ohne Licht, nur von Ferne hörte er das Wimmern und Winseln unter den anderen Laken dicht neben ihm, und ihm war, als wäre all die Liebe, die ganze Erkenntnis seines Daseins nichts weiter als ein tapferes und vergebliches Aufbäu men gegen den Schmerz gewesen. Nichts erschien ihm mehr rein und klar. Alles war Schmerz. Er wollte nicht stöhnen, aber für das Wollen war keine Zeit mehr, kein Raum. Die Hilfsschwester sorgte sich um einen anderen Verwundeten, mit dem es nicht mehr lange dauern würde, dessen war er sicher, das Jammern am Ende der Baracke müsste aufhören, ganz bald, vor seinem. Er wollte seine Ruhe. Er schrie, er wollte jemanden anklagen und ihm fehlte die Erinnerung an Gott und Glauben. Er bettelte. Die Hilfsschwester kam, sie gab ihm eine Spritze. Und die Spritze zeigte keinerlei Wirkung. Erst nach der Morgendämmerung konnte er einschlafen. Mittags ließ er sich ein Blatt Papier und einen Bleistift geben. Der Arm war ihm schwer, und kraftlos erschien ihm seine Hand, kaum konnte er den Bleistift aufrecht halten. Er schrieb an Selma. Er schrieb, um die Verbindung zwischen ihnen nicht abreißen zu lassen, so fahl schien ihm jetzt die Erinnerung an seine Liebe, so willkürlich das Objekt seiner Begierde. Die folgenden Tage widmete er sich seinem Stein aus Treue. Ein ritterliches Gefühl durchströmte ihn beim Berühren des Steines. Er hätte weinen mögen. Vorsichtig umkreisten seine Gedanken Begriffe wie Ehre und Gewissen. Ernst Ludwig Würsich fühlte Scham für sein Dasein. Was war schließlich ein verwundeter Mann ohne Bein? Nicht einmal zu Gesicht bekommen hatte er einen Russen, keinem Feind ins Antlitz geschaut. Geschweige denn hatte er in diesem Krieg sein Leben irgendeinem ehrenvollen Einsatz entgegengebracht. Sein Bein war ein kläglicher Unfall und konnte als kei nerlei Tribut an den Feind gelten. Er wusste, er würde den Stein aufheben und ablegen, bis ihn die nächste Infektion der Wunde oder des Darmes ereilte, seinen Körper in Brand setzte, ausbrannte, er in ein Fieber und in die Dämmerung des Schmerzes sank.