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Der Erfolg jener Winterschlacht sollte Ernst Ludwig Würsich ähnlich fremd bleiben wie das Fragen nach einem Sinn des Krieges. Als eines Tages, kurz nach Kriegsende, das Lazarett aufgelöst wurde, wollte man ihn und die anderen Verwundeten nach Hause bringen. Aber der Transport stellte sich als schwierig und langwierig heraus. Auf halber Strecke ging es einigen schlechter, Typhus breitete sich unter ihnen aus, manche starben und die Übrigen wurden vorübergehend in einer kleinen Siedlung aus Baracken nahe Warschau untergebracht. Von dort ging es mit einem größeren Krankentransport nach Greifswald. Jetzt hieß es von Woche zu Woche, man warte lediglich auf seine Genesung, um ihn zurück nach Bautzen zu schicken. Aber so gut die Genesung auch voranschritt, im Zweifel waren es Hilfskräfte und finanzielle Mittel, die für seine Heimkehr fehlten. Zwei, drei Briefe schrieb er in jedem Monat nach Hause, er richtete sie an seine Frau, auch wenn er nicht wissen konnte, ob sie noch am Leben war. Eine Antwort erhielt er nicht. Er schrieb Selma, dass der Stumpf seines Beines nicht verheilen wollte, wohingegen die Wunden im Gesicht, dort, wo sich einmal das rechte Auge befunden habe, vortrefflich zugewachsen seien, die Narben sich von Tag zu Tag ebneten. Jedenfalls vermutete er das beim Tasten, wissen konnte er es nicht, weil er keinen Spiegel besaß. Er hoffe, sie werde ihn wiedererkennen. Ausgerechnet die Nase sei fast unverändert geblieben. Ja, das Gesicht sei wunderbar verheilt, man könne wohl nur bei genauem Hinsehen und mit Hilfe einiger Rückschlüsse von der sonstigen Physiognomie erkennen, wo sich einmal dieses rechte Auge befunden habe. Er würde bei künftigen Theaterbesuchen nunmehr gern ihr goldenes Binokel ausleihen, das er ihr zum ersten Hochzeitstag geschenkt hatte, und ihr im Gegenzug endlich sein Monokel anbieten. Sie habe doch schon immer gefunden, das Monokel passe besser in ihre Hände als in seine.

Er glaubte, seine Frau könnte zumindest auf ihre bezaubernde Weise lächeln, falls sie noch am Leben war, falls sie seinen Brief las und falls sie so von seinen Verletzungen erfuhr. Allein wenn er sich das Funkeln ihrer Augen vorstellte, deren Farbe zwischen grün und braun und gelb wechselte, lief ihm ein Schauer des Verlangens und Wohlseins in der Welt über den Rücken. Selbst den bislang unbekannten Schmerz, den eine wundgelegene Stelle am Steißbein ausstrahlte, pochend und den Rücken hinauf strebend, als würden die oberen Hautschichten in feinste Streifen geschnitten, selbst den spürte er für Minuten nicht.

Wie konnte er ahnen, dass seine Frau Selma die Briefe ungelesen und noch verschlossen ihrem Mariechen zur Aufbewahrung gab?

Voller Abscheu sagte Selma Würsich dem Mariechen, es ekele sie zunehmend an, von diesem Mann, wie sie inzwischen von ihm sprach, der gegen ihren ausdrücklichen Willen und doch angeblich ihr zuliebe gerne Held geworden wäre, Kriegspost zu erhalten. Sie glaubte in diesen Lebenszeichen einen besserwisserischen Spott zu erkennen, dessen sie ihren Mann ohne weitere Gründe schon verdächtigte, solange sie einander kannten. Innerlich wartete sie auf den Tag seiner Heimkehr und darauf, ihm mit einem pure Gleichgültigkeit ausdrückenden Achselzucken die folgenden Worte des Willkommens zu sagen: Ach, sag bloß, dich gibt’s noch?

Eine auf diese Weise ausgestellte Gleichgültigkeit versprach ihr nach den ersten Wochen des Vermissens und den folgenden Wochen und Monaten der Wut über seinen Weggang den höchsten Triumph. Ausgerechnet das wendische Hausmädchen, eine ältliche Jungfer, als das Ernst Ludwig das Mariechen einmal vor den Ohren der Töchter bezeichnet hatte, war ihr nun der einzige Mensch, mit dem sie noch sprach, wenn auch wenig.

Selma Würsich verbrachte die Jahreszeiten auf der Lauer. Sie fand keine Zeit mehr, eine innere Rastlosigkeit jagte sie im Frühling, von innen nach außen. Plötzlich stand eine Tochter vor ihr und fragte etwas, das Wort Himmelfahrt fiel, und schon wandte sich Selma ab, denn diese Worte hatten mit ihr nichts zu tun, so meinte sie, zwar schallten sie an ihre Ohren, richteten sich Augen einer Tochter paarweise auf sie, aber unmöglich konnte das ihr gelten. Sie sagte dann einfach, sie wollte ungestört sein, und verlangte Ruhe.

Das Verzieren der Ostereier überließ sie dem Mariechen, das in diesen Dingen ohnehin geschickter war. Überhaupt empfand Selma das Zusammensein mit anderen Menschen als immer lästiger, ihr fehlte schlicht die Geduld, das Geschnatter und Gefrage der Töchter zu ertragen. Wie zärtlich dankte sie heimlich dem Himmel, dass ihr Mariechen ihr diese Geselligkeiten vom Leibe hielt.

Im Sommer pflückte Selma die wenigen Kirschen von dem großen unbeschnittenen Baum, den ihr die Kinder der Straße und die eigenen Töchter über Wochen geplündert hatten. Dabei trug sie einen der ausladenden Hüte mit Schleier, unter dem hervor sie unauffälliger in Richtung Kornmarkt schauen konnte, und drehte sich auf der Leiter stets in die Richtung, aus der sie ihren Mann nahen glaubte. Als sie mit ihrem Korb voller Kirschen auf der Treppe vor dem Haus saß, knabberte sie das magere und wurmstichige Fleisch von den Kernen. Es schmeckte sauer und leicht bitter. Die Kerne legte sie zum Trocknen in die Sonne. Wie Knochen blichen sie aus. Alle paar Tage nahm sie eine Handvoll Kerne und schüttelte sie zwischen ihren hohlen Händen. Das Geräusch wärmte sie, so könnte das Glück klingen, dachte Selma.

Im Herbst meinte sie einmal, ihren Mann durch das Laub auf der gegenüberliegenden Straßenseite stapfen zu sehen, und drehte sich eilig um, damit sie im Haus wäre, wenn er käme. Sie bemühte sich, nichts als Gleichgültigkeit zu empfinden. Aber sie bemühte sich umsonst, die Türglocke blieb still, und er kam nicht. Der durch das Laub stapfende Mann musste ein anderer gewesen sein, womöglich einer, der mit einer leidenschaftlichen Umarmung empfangen jetzt bei einer heißen Kohlsuppe lachend mit seiner Frau am Tisch saß.

Zum Winterbeginn entfernte Selma Würsich mit einem Messer die noch grünen und die schon schwarzen, getrockneten Schalen der Walnüsse und blickte dabei aus dem Fenster hinaus in ein langsames Schneetreiben. Flocken taumelten auf und ab, als kennten sie keine Schwerkraft. Häufig sah sie ihn die Tuchmacherstraße herunterkommen. Er würde in den Jahren gealtert sein und nach Fremde riechen. Wenn er wiederkäme, würde er schon sehen.

Doch auf den kommenden Frühling und den Sommer ausdauernden Wartens und herbeigesehnter Schadenfreude folgte eine Zeit der Erschöpfung. Das Geschäft ging nur schleppend, kaum jemand verlangte Gedrucktes. Das Papier wurde teuer. Während Selma mit leerem Blick am Fenster saß, berechnete Helene nun in jedem Quartal neue Preise für Briefschaften und Todesanzeigen. Die Ansichtskarten verkauften sich so schlecht, dass sie schon seit Monaten keine mehr nachdrucken konnten. Speisekarten wurden kaum noch bestellt, die meisten Wirte schrieben ihre wenigen Gerichte jetzt auf Tafeln. Die Ersparnisse aus der Zeit vor dem Krieg, als die Druckerei noch florierte und Helenes Vater begonnen hatte, Ratgeber für die Ehe, Hefte mit Kreuzworträtseln und schließlich Gedichte zu drucken, verloren zusehends an Wert. Die Stückzahl der jährlich verkauften Kalender war zuletzt unter hundert gesunken. Allein die Einrichtung der Blätter für 1920 versprach mehr Kosten als Aussicht auf einen Absatz der Kalender.

Einem nächtlichen Einfall folgend war Helenes Mutter dazu übergegangen, den seit vielen Jahren angestellten Schriftsetzer für Monate im Voraus zu bezahlen. Offenbar glaubte sie, auf diese Weise der Teuerung entgegenzuwirken, sie gewissermaßen zu überlisten. Aber es kamen immer weniger Aufträge, und der Schriftsetzer saß tatenlos unten in der Druckerei und löste Kreuzworträtsel, die Hefte stapelten sich im Lagerraum, weil keiner sie mehr kaufte. Aufgrund eines Minderwuchses mit zu kurzen Beinen hatte das Regiment den Mann im Krieg nicht haben wollen. Seine Frau und die acht Kinder hungerten mit ihm, manche der Kinder bettelten auf dem Kornmarkt um Brot und Schmalz, immer wieder wurden sie beim Stehlen von Äpfeln und Nüssen erwischt.