Выбрать главу

Eines Abends fand Selma in der Tasche des Kittels, den der Schriftsetzer bei Feierabend neben die Tür gehängt hatte, eine Handvoll Zuckerwürfel, die sie aufgrund von Farbe und Form unschwer als aus ihrer Küche gestohlen zu erkennen glaubte. Am nächsten Morgen war sie den Anblick des tatenlosen Mannes leid. Selma verspürte einen starken Widerwillen, mit ihm über den Zucker und das Stehlen und die Kosten seiner Arbeitskraft zu sprechen. Sie erwartete Ausreden und suchte lieber einen Ausweg, einen endgültigen. Sie würde ihm auftragen, ihre jüngere Tochter das Schriftsetzen und den Umgang mit den Lettern und der Presse zu lehren. Schließlich würde sie Helene für die selten anfallenden Arbeiten und die wenigen Aufträge, die überhaupt noch kamen, nicht bezahlen müssen.

Das Mädchen langweilte sich in seinem letzten Schuljahr zu Tode, es wurde Zeit, dass es sich nützlich machte. Helenes Drängen, auf eine Höhere Töchterschule zu gehen, gab die Mutter nicht nach. Wo sie sich schon bisher in der Schule so gelangweilt hatte, schien es in den Augen der Mutter ein allzu kostspieliges Vergnügen, diese gepflegte Faulenzerei noch um zwei Jahre zu verlängern.

Selma Würsich stand am Fenster und schaute die Tuchmacherstraße hinauf, sie hielt sich den Morgenmantel zu, seit Tagen konnte sie den Gürtel ihres Morgenmantels nicht finden, die Glocken läuteten, gleich würden ihre Töchter aus der Kirche kommen. Allein die Vorstellung, dass ihre Tochter Lehrerin werden könnte und in ihrer kindlichen Unbefangenheit einmal den Wunsch nach einem medizinischen Studium geäußert hatte, behagte Selma nicht. Aufmüpfig und widerborstig ist das Kind, flüsterte sie für sich.

Martha hatte Helene am Arm, als sie vom Kornmarkt her die Straße entlangschlenderten. Auf der Vitrine entdeckte Selma ein Geschenkband aus violettem Atlas. Ihr Hausmädchen musste es ordentlich zusammengerollt und dort abgelegt haben. Selma band es sich an Stelle des fehlenden Gürtels um den Morgenmantel. Mit großer Sorgfalt knüpfte sie eine Schleife und lä chelte über ihren Einfall. Jetzt hörte sie das hohe Läuten der Tür.

Kommt herauf, ich möchte mit euch sprechen! Oben am Geländer stand die Mutter und winkte Helene und Martha zu sich hinauf. Die Mutter wartete nicht, bis die Mädchen Platz genommen hatten.

Seit Jahren führst du die Bücher, Helene, es schadet nichts, wenn du die praktische Arbeit lernst. Die Mutter warf einen vorsichtigen Blick zu ihrer älteren Tochter, sie fürchtete deren Kritik. Aber Martha schien in Gedanken woanders zu sein. Schon jetzt könnte ich die Abgaben nicht ohne deine Buchführung ausweisen, du kümmerst dich um die Papierkäufe und die Wartung. Der Setzer frisst uns noch die Haare vom Kopf. Es wäre gut, wenn er dir die nötigen Dinge zeigt und wir ihn entlassen könnten.

Helenes Augen glänzten. Herrlich, flüsterte sie. Sie sprang Martha an den Hals, küsste sie und rief: Als erstes drucke ich uns Geld und gleich danach ein Familienbuch für dich.

Martha schüttelte Helene von sich ab. Sie wurde rot und schwieg. Die Mutter griff Helene am Arm, sie nötigte Helene in die Knie.

Welche Flausen. Deine Freude ängstigt mich, Kind. Die Arbeit wird nicht einfach sein. Dann ließ sie locker, und Helene konnte wieder aufstehen.

Vergnügt sah Helene ihre Mutter an. Es wunderte sie nicht, dass die Mutter glaubte, es handele sich um eine schwierige Arbeit, schließlich betrat die Mutter nur selten die Räume der Druckerei — womöglich hatte sie nie zugesehen, wie etwas gesetzt wurde, und aus der Entfernung musste ihr die Angelegenheit rätselhaft erscheinen. Helene dachte an das Klacken und leise Schnaufen der Presse, das Malmen der Walzen. Wie unterschiedlich so ein Auge doch schauen konnte! Was dem Schriftsetzer gerade richtig erschien, verursachte in Helene Unruhe. Deutlich sah sie vor sich, wie sie endlich die Buchstaben und Worte so sperren würde, dass die Lücken für Harmonie und Klarheit sorgten. Die Vorstellung, allein die große Presse zu bedienen, versetzte sie in Aufregung. Schon oft hatte sie sich gewünscht, die Arbeit des Schriftsetzers vollkommen zu machen.

Selma beobachtete Helene. Das Leuchten in ihren Augen war ihr unheimlich. Die Freude ließ das Kind noch größer und heller erscheinen als sonst.

Was dir fehlt, sagte die Mutter jetzt streng, ist ein gewisses Maß für die Dinge. Ihre Stimme schnitt, jedes Wort wirkte hauchfein. Du erkennst ihre Ordnung noch nicht. Offenbar fällt dir deshalb eine Anerkennung unser aller Ordnung schwer. Eine wichtige Sache, die du von unserem Schriftsetzer wirst lernen können, ist die Unterordnung, Kind. Demut.

Helene spürte, wie ihr das Blut in den Kopf schoss. Sie schlug die Augen nieder. Hell und Dunkel brachen auseinander und zerfielen, die Farben verschwammen. Noch fehlte jeglicher Gedanke für eine Antwort. Das Kaleidoskop drehte sich, ein rostiger Nagel rückte mehrfach in die Nähe von Walnussschalen, man konnte nie wissen, wofür man das eine oder andere noch brauchte. Es dauerte Sekunden, bis ihr im Innern wieder ein klares Bild entstand. Wie ein Geschenk sah sie aus, diese Mutter, auf deren Leib Helene die violette Schleife aus Atlas entdeckte. Die violette Schleife bebte, während die Mutter sprach. Sie möchte ausgewickelt werden, kein Zweifel, schoss es Helene durch den Kopf. Helene sah jetzt die mütterliche Landschaft aus Kleiderresten und an den Enden von schwarzem Blut verkrus teten Flederwischen, die Kissenbezüge, aus deren löchrigen Zipfeln Kirschkerne rieselten, und die Berge gesammelter Zeitungen. Den Gipfel, von dem herab die Mutter ihr etwas über einen Sinn für bestehende Ordnungen erzählen wollte, konnte Helene nicht erkennen. Helene schaffte es nicht mehr, den Blick zu heben und dem ihrer Mutter zu begegnen. Suchend sah sie in Marthas Richtung, aber Martha sprang ihr nicht zur Hilfe, diesmal nicht.

Binnen weniger Wochen verlor Helene ihre Ehrfurcht vor dem Glanzstück in der Druckerei ihres Vaters. Die Tiegeldruckpresse mit dem Namen Monopol versetzte sie nicht mehr in Andacht, sondern forderte den Einsatz ihres Körpers. Während der Schriftsetzer, da er zu klein war, um vom Hocker des Vaters aus mit den Beinen an das Pedal zu gelangen, geschickt eines seiner kurzen Beine hob und mit kräftigem Treten das Pedal in Schwung hielt, rührte sich bei Helenes ersten Versuchen das Pedal keinen Millimeter. Obwohl sie gut mit der Nähmaschine umzugehen wusste und es keinerlei Schwierigkeit darstellte, deren Räder mit beständigem Treten am Laufen zu halten, brauchte es für die Monopol offenbar die Kraft eines Mannes. Helene stellte sich mit beiden Füßen auf das Pedal und sackte ab. Das Rad hatte lediglich einen Ruck vorwärts getan. Der Schriftsetzer lachte. Vielleicht wolle er ihr das Reinigen der Walzen zeigen, sagte Helene scharf und mit einem deutlichen Blick auf die Walzen, auf denen fingerdick Staub lag.

Dass ihr Lernen an der Kraft ihres Körpers scheitern könnte, wollte Helene nicht hinnehmen. Kaum verließ der Schriftsetzer am Abend das Haus, stellte sie sich an die Monopol und übte mit dem rechten Bein. Sie stützte sich auf die Papierablage und trat und trat, bis sich das große Rad immer schneller drehte und das Reiben der Walzen ein wunderbar tiefes Geräusch verursachte. Sie schwitzte, aber sie konnte nicht aufhören.

Tagsüber zeigte ihr der Schriftsetzer den Umgang mit der Heftmaschine, der Anpressmaschine und der Blechklammermaschine, beflissen kam er seinem Auftrag nach, und doch bemerkte er immer wieder mit einem Augenzwinkern, die Monopol gehorche nur ihrem Meister. Offenbar empfand er sich selbst seit der Abwesenheit des Vaters als dieser Meister. Dem Schriftsetzer behagte die Gewissheit seiner vermeintlichen Unabkömmlichkeit.