Niemand wusste, dass sich zwischen Helene und dem Schriftsetzer über die vergangenen Jahre ein freundschaftliches Arbeitsverhältnis entwickelt hatte. Er war der erste erwachsene Mensch, der Helene ernst nahm. Schon seit sie mit sieben Jahren begonnen hatte, die Bücher ihres Vaters zu führen und nun in dessen dem Krieg geschuldeten Abwesenheit Einkäufe und Buchführung übernahm, begegnete ihr der Schriftsetzer mit großer Ehrerbietung. Er nannte sie Fräulein Würsich, das gefiel Helene. Jede ihrer Rechnungen akzeptierte er anstandslos.
Selbst als Helene nach Kriegsende seinen Wünschen auf Lohnerhöhung nicht in vollem Umfang nachkam, änderte sich nichts an seiner freundlichen Haltung gegenüber dem Mäd chen. Sie war diejenige, mit der er über die anstehenden Erledigungen in der Druckerei sprach. Und musste eine der Maschinen gewartet werden, so hielt der Schriftsetzer Rücksprache mit Helene. Besonders seit ihre Mutter wieder über Monate im oberen Teil des Hauses verschwand, wo sie die Gardinen schloss und den Fenstern den Rücken kehrte. Helene mochte den Schriftsetzer. Sie war es, die hinauf in die Küche ging, dort die Speisekammer aufsuchte, sich mehrfach umblickte, um sicher zu sein, dass niemand sie ertappen konnte, und eine aus Zeitung gerollte Papiertüte mit Graupen füllte, eine zweite mit Grieß und in die dritte schließlich eine Gurke, einen Kohlrabi und eine Handvoll Nüsse steckte. Als sie eines Tages im obers ten Fach der Speisekammer den riesigen Karton Würfelzucker entdeckte, riss sie ohne Zögern eine Seite aus dem Bautzener Wirtschaftskalender, wickelte einen ordentlichen Stapel Zu ckerwürfel ein und brachte auch den dem Schriftsetzer.
Kaum war der Schriftsetzer abends gegangen, übte Helene heimlich das Treten der Monopol. Nach einigen Tagen übte sie nicht nur mit dem rechten, sondern auch mit dem linken Bein. Sie übte, bis sie nicht mehr konnte. Und wenn sie nicht mehr konnte, übte sie weiter, sie übte das Nichtmehrkönnen zu überwinden und übte weiter. Am Abend fühlte sie, wie fest ihre Beine wurden, und am nächsten Morgen spürte sie ein ungewohntes Ziehen, dessen Bezeichnung sie bislang nur aus den Mündern der Jungen kannte: Muskelkater. Es sollte den Namen Muskelkater tragen, was für ein komisch ernsthafter Name.
Eines Abends erklomm sie den im Boden verankerten Hocker ihres Vaters. Zu ihrem Erstaunen brauchte sie ihre Beine nicht einmal auszustrecken, der Hocker schien für sie gebaut worden zu sein. Sie setzte beide Füße auf das Pedal und trat los, dabei musste sie den Bauch fest anspannen, und es kitzelte angenehm, sie hatte ein Flattern im Bauch wie beim Schaukeln. Sie musste an Marthas Hände und an Marthas weiche Brüste denken.
Erst als Selma Würsich einige Wochen später fragte, ob ihre Tochter endlich alles gelernt habe, führte der Schriftsetzer Helene an die Schneidemaschine. Bisher hatte er es vermieden, sie auch nur in die Nähe der Maschine zu bringen. Ihn erfasste jetzt eine dunkle Ahnung. Er betrachtete ihr blondes Haar, das sie zu einem dicken Zopf geflochten trug, und nur zögerlich kamen ihm die Worte über die Lippen. Knapp waren seine Kommentare: Erst öffnen. Dort einstellen. Der Schriftsetzer schob die Lineale wie Leisten übereinander. Hier anlegen.
Ohne ein Wort der Entschuldigung schob der Schriftsetzer Helene ein wenig zur Seite, er zeigte ihr schweigend, wie sie den Papierstoß erst schlagen und dann begradigen musste, um ihn in die Maschine einzupassen. In seinen Augen war die Schneidemaschine gefährlich, nicht, weil Helene ein zartes Mädchen von gerade mal dreizehn Jahren war, sondern weil sie nun alle Maschinen bedienen konnte, alle, mit Ausnahme der Mo nopol.
Aus Anlass von Marthas zweiundzwanzigstem Geburtstag ließ die Mutter das Mariechen einen Rinderbraten mit Thymian kruste zubereiten. Wie immer, wenn es Fleisch gab, aß sie selbst davon nichts. Niemand sprach über den Grund, aber die Töchter waren sich einig, dass es mit gewissen Speisevorschriften zusammenhängen musste. Es gab keinen koscheren Metzger in Bautzen. Zwar ließen angeblich Kristallerers beim Metzger für ihre Bedürfnisse schächten, und es ging das Gerücht, dass sie für diesen Zweck auch eigene Messer zum Metzger brachten. Aber der Mutter war es offenbar nicht angenehm, mit solchen Wünschen in die doch überschaubare städtische Öffentlichkeit zu gehen. Vielleicht stimmte auch, was sie behauptete, und sie mochte einfach kein Fleisch.
Zur Feier hatte Martha ihre Freundin Leontine einladen dürfen. Die Mutter trug ein langes Kleid aus kaffeefarbenem Samt. Den Saum hatte sie eigenhändig mit einer Spitze verlängert, die Helene unpassend und ein wenig lächerlich erschien. Schon am Abend zuvor hatte Helene Martha die Haare aufgewickelt und sie über Nacht trocknen lassen. Nun verbrachte sie den Nachmittag damit, Marthas Haare hochzustecken, in die kleinen Zöpfe flocht sie seidene Malven, so dass Martha schließlich aussah wie eine Prinzessin und ein wenig wie eine Braut. Dann half Helene dem Mariechen beim Eindecken des Tisches, es wurde das kostbare chinesische Porzellan aus dem Schrank geholt, die Servietten steckten in Rosenblättern aus Silber, die zur Aussteuer der Mutter gehört hatten und sonst nur zu Weihnachten benutzt wurden.
Als es läutete, rannten Martha und Helene gleichzeitig zur Tür. Draußen stand Leontine. Sie versteckte ihr Gesicht hinter einem großen Strauß, den sie offenbar unten auf den Wiesen gepflückt hatte. Kornblumen, Raute und Gerste. Sie lachte wild und drehte sich einmal im Kreis: Sie hatte ihr Haar kurz geschnitten. Wo zuvor ein strenger Dutt im Nacken gesessen hatte, war nun der weiße Hals sichtbar, die Strömung des kurzen Haars mit ihren Wirbeln, das Ohr. Helene konnte sich nicht sattsehen.
Später bei Tisch haftete Helenes Blick an Leontine, sie versuchte, ihn loszureißen, aber vergebens. Helene bewunderte Leontines langen Hals. Sie war schmal und kräftig. An ihren Unterarmen konnte Helene jede Ader und Sehne erkennen. Leontine arbeitete mit Martha im Städtischen Krankenhaus. Zwar war sie nicht Oberschwester und auch noch viel zu jung dafür, aber dennoch hatte sie mit ihren dreiundzwanzig Jahren seit einigen Monaten die erste Stelle unter den Schwestern im Operationssaal inne. Leontine war die rechte Hand des Chirurgen. Sie konnte jeden Patienten alleine heben — und zugleich waren ihre Hände während den Operationen so ruhig und bestimmt, dass der erst kürzlich zum Professor ernannte Chirurg sie bei schwierigen Nähten immer häufiger um Hilfe bat.
Wenn Leontine lachte, lachte sie tief und lang.
Wann immer sich die Gelegenheit bot, verbrachte Helene ihre Zeit mit Martha und Leontine. Leontine lachte, dass es einem das Zwerchfell rührte. Wenn sie sich hinsetzte, konnte man deutlich sehen, wie unter dem Rock ihre spitzen Knie auseinanderfielen. Sie saß völlig ungerührt und selbstverständlich breitbeinig da. Hin und wieder stützte sie ihre Hand auf das Knie, und winkelte dabei den Arm leicht an, so dass der Ellenbogen nach außen stand. Es gab kurze, knappe Bemerkungen, die von einem Unglück erzählten, denen aber ihr tiefes Lachen folgte. Meist lachte Leontine allein. Martha und Helene lauschten ihrem Lachen mit offenem Mund; vielleicht konnte das Lachen so besser durchs Zwerchfell in die Bauchgrube sickern. Martha und Helene brauchten lange, bis sie wenigstens ahnten, worüber Leontine gelacht hatte. Sie mochten blöde dabei aussehen. Sie schüttelten nicht den Kopf, weil sie Leontines Lachen für ein Lachen am falschen Platz hielten, sondern weil sie staunten. Besonders gefiel Helene die Stimme. Sie war fest und klar.
Als sie nun zu Marthas Geburtstag mit dem Rinderbraten in ihrer Mitte am Tisch saßen, sagte Leontine: Mein Vater will mich studieren lassen.
Studieren? Die Mutter war überrascht.
Ja, er glaubt, es wäre gut, wenn ich mehr Geld verdienen könnte.
Die Mutter schüttelte den Kopf. Aber ein Studium kostet. Sie reichte Leontine die Schale mit den Wickelklößen.