Ich möchte auch nicht. Leontine strich sich mit der Hand das Haar aus der Stirn, ihr dunkles Haar fiel jetzt seitlich wie bei einem Mann.
Nun nickte die Mutter zustimmend. Das ist verständlich. Wer möchte schon lauter unnütze Dinge lernen? Als Krankenschwester werdet ihr immer gebraucht. Zu jeder Zeit an jedem Ort, eine Krankenschwester findet immer eine Arbeit.
Warum unnütze Dinge? Helene blickte fragend zu Leontine, in deren Mund ein großes Stück Rinderbraten verschwand.
Unnütz vielleicht weniger, antwortete Leontine, aber ich möchte nicht weg. Weg, wovon, fragte sich Helene. Als hörte Leontine ihren Gedanken, sagte Leontine: weg von Bautzen. Helene nahm es hin, obwohl sie daran zweifelte.
Wieder nickte die Mutter. Helene fragte sich, ob die Mutter echtes Verständnis für Leontines Worte aufbrachte, schließlich war sie selbst in Bautzen nach all den Jahren alles andere als verwurzelt. An Bautzen konnte der Mutter nichts liegen. In Helenes Augen konnte es nicht viele Gründe geben, weshalb Leontine in Bautzen bleiben wollte. Ihr Vater war ein angesehener Advokat, er war auch Witwer und Trinker, beides mit ganz eigenem Maß. Er bevorzugte seine jüngeren Töchter. Unternahm er geschäftliche Reisen, nahm er stets eine der beiden jüngeren mit und brachte sie in einem neuen Kleid oder mit einem modischen Sonnenschirm zurück. Der Vater war ein wohlhabender Mann, man konnte nicht behaupten, dass seine älteste Tochter ein Aschenputtel wäre, das niedere Arbeiten ausführen musste. Auch wurde sie nicht willkürlich geschlagen. Aber Leontine schien ihrem Vater lästig zu sein. Es störte ihn, dass sie nicht heiratete. Von Zeit zu Zeit machte er ihr Vorschläge und stritt mit ihr. Nachdem seine Frau vor mehr als zehn Jahren gestorben war, lebte er allein mit den drei Töchtern und einer Schwiegermutter, die seit Jahren verwirrt war. An Sonntagen führte er die jüngeren Töchter links und rechts am Arm am Rathaus vorbei in den Petridom. Die Schwiegermutter lief gemeinsam mit der Köchin einige Schritte hinter ihm, und es sah aus, als habe Leontine keinen festen Platz in dieser Familie. Es war Leontine selbst überlassen, sich eine Begleitung zu suchen. Häufig stützte Leontine ihre Großmutter, aber sobald sie die Kirche erreicht hatten und sie in der Menschentraube am Eingang Martha entdeckte, nahm sie die Gelegenheit wahr und ging mit ihr Hand in Hand bis zur Sitzbank. Hier saß sie zwischen Martha und Helene, auf jenem Platz, der in Gedanken für den aus dem beendeten Krieg noch nicht heimgekehrten Vater freigehalten wurde. Sie genoss es, wenn Martha während des Gottesdienstes ihre Hand mit den schönen langen Fingern neben ihre legte und sich ihre Finger verhakelten. Manchmal spürte sie dann von der anderen Seite ein warmes Gewicht an ihrer Schulter, Helene schmiegte ihren Kopf an ihren Arm, als habe sie in ihr eine Mutter gefunden.
Es gab kaum einen Tag, an dem Martha Leontine nicht aus dem Krankenhaus mit in die Tuchmacherstraße brachte. Gemeinsam erledigten sie Hausarbeiten und halfen je nach Dienstzeiten in der großen Bleicherei auf den Spreewiesen aus. Sie waren unzertrennlich.
Keine zehn Pferde brächten mich hier weg, bekräftigte Leontine, sie nahm sich einen etwas klein geratenen Wickelkloß und es entging Helene nicht, wie Martha mit ihrem Ellenbogen Leontines berührte, während die beiden jeden Blick untereinander vermieden, der sie verraten konnte.
Esst das Fleisch nur auf, Mädchen. Helene, wie geht es in der Druckerei voran? Die Mutter lächelte mit einem gewissen Spott. Du lernst doch sonst so schnell. Kannst du jetzt alles? Gibt es Dinge, die du noch nicht weißt?
Wie soll ich wissen, was ich nicht weiß? Helene nahm sich eine Scheibe Fleisch.
Die Mutter verdrehte die Augen. Sie seufzte. Vielleicht beantwortest du einfach die Frage, Fräulein?
Wie soll ich die Frage beantworten? Ich kann sie nicht beantworten.
Dann beantworte ich sie für dich, Liebes.
Noch nie hatte die Mutter Liebes zu ihr gesagt. Es klang wie ein Fremdwort, scharf, als wolle die Mutter vor Marthas Freundin betonen, wie freundlich sie zu ihren Kindern sei, obwohl ihr das nicht gerade leichtfalle. Zehn Wochen sind jetzt um, Zeit genug für dich, das Wichtigste gelernt zu haben. Was du jetzt nicht weißt und kannst, das wirst du dir auf eigenen Wegen aneignen. Morgen früh entlasse ich den Schriftsetzer. Fristlos.
Wie bitte? Martha ließ ihre Gabel fallen. Er hat acht Kinder, Mutter.
Und? Habe ich nicht auch zwei? Uns fehlt der Mann im Haus. Wir können ihn nicht länger bezahlen. Wir schreiben keine Gewinne mehr. Helene, du weißt es am besten von uns allen. Wie sah das vergangene Jahr aus?
Helene legte ihr Besteck beiseite. Sie nahm die Serviette und tupfte sich den Mund ab. Besser als dieses.
Und schlechter als jedes andere zuvor, sehe ich das richtig?
Helene nickte nicht, sie hasste es, der Mutter erwartete Worte und Gesten zu schenken.
Also. Der Schriftsetzer ist entlassen.
Die kommenden Wochen erschienen Helene als eine schwere Zeit. Sie war es nicht gewohnt, den ganzen Tag allein zu sein. Der Schriftsetzer hatte sich seit dem Tag der Kündigung nicht mehr blicken lassen. Es hieß, er habe mit seiner Familie die Stadt verlassen. Helene saß Tag für Tag in der Druckerei und wartete auf Kundschaft, die nicht kam. Aus Marthas Buch sollte sie für die Aufnahmeprüfung zur Schwesternschülerin lernen, aber sie blätterte es durch und entdeckte kaum etwas, das sie noch nicht wusste. Die genaue Reihenfolge der Kompressen und Wickel bei den verschiedenen Krankheiten gehörten schon eher zur Abschlussprüfung. Wie das meiste in dem Buch sich dem Wissen zuwendete, das während der Lehrzeit erworben werden sollte. Die wenigen unbekannten Einzelheiten waren mit dem Umblättern in ihrem Gedächtnis verankert. Also begann Helene andere Bücher zu lesen, die sie im Bücherregal des Vaters entdeckte. Das Herausnehmen eines Buches aus dem mächtigen Regal war den Töchtern verboten. Aber schon früher, als der Vater noch da war, galt es beiden Töchtern als Abenteuer und Mutprobe mit besonderem Kitzel, die kostbaren Bücher zu entwenden. Damit keine Lücke an der Stelle klaffte, wo eben noch Kleists Marquise von O. gestanden hatte, schob sie Stifters Condor weiter nach links. Es herrschte keine Ordnung im Bücherregal des Vaters, das quälte Helene ein wenig, aber sie war unsicher, ob diese Unordnung von der Mutter überwacht wurde und was geschehen konnte, würde sie eigenmächtig hier ein Alphabet walten lassen. Beim Lesen waren Helenes Ohren gespitzt, und sobald sie ein Geräusch hörte, ließ sie das Buch unter ihrer Schürze verschwinden. Häufig sah Helene zur Tür hinaus, wenn sie glaubte, Leontines tiefe Stimme zu erkennen. Einmal ging ganz unerwartet die Tür, herein kamen Martha und Leontine mit einem großen Korb, sie lachten.
Du hast vielleicht rote Wangen! Stellte Leontine fest und strich dabei flüchtig über Helenes Haar. Doch kein Fieber?
Helene schüttelte den Kopf, unter ihrer Schürze klemmte ein Schatz. Sie hatte ihn ganz oben im Bücherregal entdeckt, eingeschlagen in eine Zeitung hatte er hinter den anderen Büchern wie in einem Versteck gelegen. Er war mehr als hundert Jahre alt. Der Pappeinband war mit Buntpapier überzogen und der Titel geprägt: Penthesilea. Ein Trauerspiel. Helene entschuldigte sich kurz bei Martha und Leontine, sie bückte sich hinter dem großen hölzernen Ladentisch und verbarg ihren Schatz im untersten Fach. Um es zu verdecken, legte sie einen der alten Bautzener Wirtschaftskalender über das Buch.
Ein Bauer aus den Lausitzer Bergen hatte den Korb Leontine zum Dank geschenkt. Vor Monaten hatte sie ihm einen schwierigen Bruch des Handgelenks geschient. Jetzt stellte Leontine den großen Korb vor Helene auf den Tisch. Er war voller dicker, hellgrüner Schoten. Ohne Zögern griff Helene mit beiden Händen hinein und pflügte die Schoten. Es roch grasig und jung. Helene liebte das Aufziehen der Schoten mit dem Daumen, und das Gefühl, wenn die Erbsen, glatt und glänzend und grün, von oben nach unten der Größe nach aus ihrer Schote geschoben wurden und am Daumen entlang hinab in die Schale rollten. Die winzigen, noch nicht ausgewachsenen Erbsen steckte sich Helene in den Mund. Martha und Leontine unterhielten sich über etwas, von dem Helene nichts verstehen sollte. Sie kicherten dabei und glucksten. Sie sprachen nur in rätselhaften Halbsätzen.