Выбрать главу

Alle Schwestern und Kranken hat er nach dir gefragt. Und dann sein Blick, als er dich endlich gefunden hatte! Martha war belustigt.

Mein Kindchen. Leontine verdrehte die Augen, während sie offenbar den Bauern nachahmte.

Ach, mir wird ganz blümerant, wenn ich Sie wiedersehe, fiel Martha ein. Sie prustete. Mit Leib und Seele Schwester!

Etwa nicht? Leontine lachte.

Gewiss. Du hättest sehen sollen, wie seine Hand immer wieder zur Hose ging. Ich dachte schon, er fällt gleich über dich her.

Aber unser guter Professor fand es gar nicht komisch: Nehmen Sie Ihre Erbsen und verschwinden Sie, Sie hatten schon heute Mittag Feierabend. Leontine seufzte. Wo ich ihm sonst nie lang genug bleibe.

Wundert dich das? Hast du nicht gehört, wie er letztens zur Oberschwester über dich sagte: Ein Blaustrumpf im Backfischmantel. Helene musste sich einen blauen Strumpf im Teig mantel vorstellen. Sollte sie sich den Fisch im Strumpf im Teig denken?

Er schätzt dich, aber seine Furcht wächst.

Furcht? Leontine machte eine wegwerfende Handbewegung. Herr Professor kennt keine Furcht. Warum auch? Krankenschwester bin ich, sonst nichts.

Die Mädchen pulten die Erbsen.

Das Schweigen zwischen ihnen wurde lang. Und wenn du doch gehst? Martha war zu allem bereit.

Um keinen Preis wollte Helene jetzt Marthas ernstes Gesicht sehen, sie stellte sich vor, sie wäre unsichtbar.

Leontine reagierte nicht.

Nach Dresden, meine ich. Studieren. Alle sagen das.

Niemals. Leontine zögerte. Nur, wenn du auch gehst.

Das ist dumm, Leontine, einfach dumm. Martha wurde traurig und streng. Du weißt, dass ich nicht kann.

Siehst du, sagte Leontine, ich auch nicht.

Martha legte nun ihrer Freundin die Hand in den Nacken, zog ihr Gesicht zu sich heran und küsste sie auf die Lippen.

Helene stockte der Atem, schnell drehte sie sich weg. Gewiss gab es etwas zu tun, sie musste in dem hohen Regal etwas suchen, vielleicht einen Stapel Papier aus dem Fach nehmen und ihn auf den Tisch legen. Das Bild schien wie eingebrannt auf ihrer Netzhaut, wie Martha Leontine zu sich zog und Leontine die Lippen spitzte. Vielleicht hatte sich Helene getäuscht? Vorsichtig riskierte sie einen Blick über die Schulter. Leontine und Martha standen über den Korb mit den Schoten gebeugt, und es war, als hätte es keinen Kuss gegeben.

Und wenn du sie mitnimmst? Sie könnte in Dresden zur Schwesternschule gehen. Leontine sprach jetzt leise und ihr Blick deutete auf Helene. Helene tat, als habe sie nichts gehört und würde nicht bemerken, dass von ihr die Rede war. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie Martha den Kopf schüttelte. Das folgende Schweigen war beharrlich. Helene spürte, dass ihre Gegenwart dem Gespräch im Wege stand. Im ersten Moment wollte sie die beiden allein lassen und rausgehen, im nächsten blieb sie einfach stehen. Helene konnte ihre Füße nicht bewegen, sie entnabelte die Erbsen und empfand Scham. Sie wollte nicht, dass Leontine sie verließ, sie wollte nicht, dass Martha und Leontine wegen ihr schwiegen, und sie wollte auch nicht, dass sich Martha und Leontine küssten.

Abends im Bett drehte Helene Martha den Rücken zu. Mochte Martha sich ihren Rücken selbst kraulen. Helene wollte nicht weinen. Sie atmete tief und ihre Augen wurden immer dicker, die Nase kleiner und enger. Das Luftholen fiel schwer.

Helene wollte keine Sommersprossen zählen und unter keiner Decke nach Marthas Bauch tasten. Sie dachte an den Kuss. Und während sie sich vorstellte, Leontine zu küssen, und wusste, dass allein Martha Leontine küssen würde, entkamen Tränen ihren Augen.

Die Mutter verlangte von Helene, die Druckerei so zu führen, dass keine roten Zahlen geschrieben wurden. Das war von Tag zu Tag leichter möglich. Ein zuletzt eingetragener Gewinn konnte spielend die im zahlenmäßigen Verhältnis gering erscheinenden Verluste vom Jahresanfang ausgleichen. Was das bedeutete, war der Mutter nicht klar. Sie wunderte sich nur, wie selten Helene eine der Maschinen anwarf.

Um nicht sinnlos Papier zu verschwenden, entwarf Helene einfache Rechentabellen. Sie vermutete, dass die Leute sie in dieser Zeit der Teuerung gut gebrauchen konnten.

Schon der Anblick einer solchen Tabelle stimmte Helene froh. Wie gerade ihre Zahlen standen. Es hatte sich gelohnt, der Acht größeren Raum zu geben, und wie sauber der Rand war!

Als sich die Entlassung des Schriftsetzers in der Stadt herumsprach, dauerte es nicht lange und die Bäckersfrau Hantusch legte Helene ein ungewöhnlich kleines und zu scharf gebackenes Brot auf den Ladentisch.

Helene fragte, ob sie nicht eines der beiden größeren und helleren Brote aus dem Regal bekommen könne. Doch die Bäckersfrau, die ihr noch vor wenigen Jahren kleine Stücke Butterkuchen in die Hand gedrückt hatte, schüttelte nach bestem Vermögen ihren halslosen Kopf. Die tiefe Falte, die den knappen Übergang von Brust zu Kopf kennzeichnete, bewegte sich beim Schütteln des Kopfes keinen Millimeter. Helene solle froh sein, dass sie überhaupt noch eines kaufen könne. Helene nahm das Brot.

Armes Ding. Die Bäckersfrau japste, ihre schweren Lider verdeckten die Augen, aus ihren Worten sprach Mitleid, aber sie klangen zugleich empört und beleidigt. Bedienst jetzt schwere Maschinen. Ein Mädchen an Maschinen. Die Bäckersfrau schüttelte auf ihre mühsame Art den Kopf.

Helene blieb in der Tür stehen. Schwer sind die Handgriffe nicht, sagte Helene und fühlte sich, als lüge sie. Sie sehen schön aus, meine Preistafeln. Wenn Sie möchten, kann ich Ihnen am Montag eine mitbringen und wir könnten tauschen — Sie bekommen eine Preistafel und ich vier Laibe Brot.

Lass man, sagte die Bäckersfrau.

Drei?

Dass Mädchen jetzt die Arbeit von Männern machen, das können wir nicht unterstützen. Deine Mutter ist wohlhabend. Warum hat sie den Schriftsetzer nicht im Dienst gelassen?

Keine Sorge, im September fange ich mit der Schwesternschule an. Wir haben nichts mehr. Das meiste war Geld. Und das Geld ist wertlos geworden.

Mit dem Runzeln der Augenbrauen verriet die Bäckersfrau ihren Zweifel. Jeder verdächtigte in dieser Zeit seinen Nachbarn, mehr zu besitzen als er selbst. Helene dachte daran, wie sie zu Beginn des Jahres der Mutter eine Freude hatte machen wollen, in ihr Zimmer gegangen war und für eine große Wäsche ihr Laken abgezogen hatte. Erst als sie die Matratze anhob, um das neue Laken aufzuziehen, sah sie die Scheine. Eine Unmenge von Scheinen steckte da im Federboden. Die Scheine unterschiedlichster Währung klemmten bündelweise zwischen den Federn, zusammengehalten von Büroklammern. Es waren kleine Zahlen, die auf die Scheine gedruckt waren, lächerlich kleine. Als Helene, erschrocken über ihre ungewollte Entdeckung, eilig das alte Laken wieder über die Matratze schlug, ertönte hinter ihr die Stimme ihrer Mutter.

Du kleines Aas. Wieviel hast du mir schon entwendet, wieviel?

Helene drehte sich um und sah, wie sich ihre Mutter vor Wut kaum noch am Türrahmen festhalten konnte. Sie zog an ihrer dünnen Zigarre, als söge sie Erkenntnis.

Seit Jahren frage ich mich schon: Selma, frage ich mich, wer bestiehlt dich hier? Ihre Stimme klang leise und drohend. Wie viele Jahre sage ich mir, es wird nicht deine Tochter sein, Selma, niemals, nicht dein Kind.

Ich wollte nur die Bettwäsche wechseln, Mutter.

Was für eine Ausrede, was für eine feine, schäbige Ausrede. Mit diesen Worten stürzte sich die Mutter auf Helene, sie umklammerte ihren Hals, so fest, dass Helene nicht anders um Luft ringen konnte, als ihre Hand gegen die Mutter zu erheben und sie mit aller Kraft von sich zu drücken, sie kniff in ihre Arme, doch die Mutter ließ nicht locker. Helene wollte schreien und konnte nicht. Erst als Schritte auf der Treppe ertönten und sich das Mariechen hörbar räusperte, ließ die Mutter von ihr ab.