Seither hatte Helene keinen Fuß mehr in das Zimmer ihrer Mutter gesetzt. Helene dachte daran, wie sie sich beim Anblick der Scheine erschrocken hatte und fragte sich, wie es ihrer Mutter bei der lückenlosen Buchführung gelungen sein konnte, das Geld beiseite zu schaffen. Geld, da war sich Helene sicher, das schon jetzt, wenige Monate später, kaum noch einen Wert hatte. Geld, das beizeiten ausgegeben wohl ein ganzes Haus und vielleicht ein Studium bedeutet hätte.
Helene sah die Bäckersfrau Hantusch an. Sie musste denken, dass deren Zweifel dem Missmut über die eigene Lage entsprang.
Letzte Woche haben wir ein besonders festes Papier bekommen, mit hohem Wachsanteil. Helene lächelte so freundlich wie möglich. Es hält Feuchtigkeit aus, das wäre gerade richtig für Ihr Geschäft.
Danke, Lenchen, vielen Dank. Aber ich kann meinen Kunden den Tagespreis nennen. Die Bäckersfrau zeigte sich mit ihrem wulstigen Zeigefinger auf den Mund. Hier. Das zählt. Papier wäre die reinste Verschwendung.
Als Ernst Ludwig Würsich unangekündigt an einem Abend Ende November den Pfleger, der ihn die letzten Kilometer nach Bautzen in einem Leiterwagen gezogen hatte, an seine Haustür klopfen ließ und das Mariechen ängstlich ob der späten Störung öffnete, ihn kaum wiedererkannte und ihn schließlich doch mitsamt dem Pfleger und im Zuge der erklärenden Worte in die Stube bat, befand sich seine Frau in einem Zustand seelischer Dämmerung. Einzig ihr Nachttopf stand alle paar Stunden vor ihrer Tür. Meist leerte das Mariechen ihn und dreimal am Tag stellte sie ein kleines Tablett mit Mahlzeiten dort hin. Die Mutter lag in ihrem Bett und wusste seit Wochen zu verhindern, dass eine ihrer Töchter oder das Mariechen ihr Zimmer betrat.
Der Vater wurde in die Stube gebracht und in seinen Sessel gesetzt. Er blickte sich um und fragte: Meine Frau, lebt hier nicht meine Frau?
Natürlich, lachte das Mariechen erleichtert. Die Dame macht sich zurecht. Mögen Sie einen Tee?
Nein, ich möchte auf sie warten, sagte Ernst Ludwig Würsich, und mit jedem Wort sprach er langsamer.
Wie geht es Ihnen? Die Stimme vom Mariechen war höher als sonst, glockenklar, ihr musste daran liegen, das Warten auf die Dame des Hauses zu verkürzen, es gar in Vergessenheit geraten zu lassen.
Wie es mir geht? Der Vater blickte aus dem übrig gebliebenen Auge in die Leere. Nun, meist fühle ich mich als der, den meine Frau in mir sieht. Er unterdrückte ein Stöhnen. Es schien, als lächelte er.
Obwohl das Mariechen gleich zu Anfang der Mutter Bescheid gegeben haben wollte, erschien die Dame nicht. Helene wärmte die Suppe vom Mittag auf und Martha verköstigte den Pfleger, der bald darauf verabschiedet werden konnte. Ernst Ludwig Würsich fiel das Sprechen so schwer wie ein Aufrichten. Die ersten Stunden verbrachte er zusammengesunken in seinem großen Sessel. Die Töchter saßen bei ihm. Sie gaben sich Mühe. Sie wollten sein fehlendes Bein nicht beachten. Nur der Blick ins Gesicht fiel schwer, es war, als gleite der Blick vom geöffneten Auge zur zugewachsenen Augenhöhle, immer wieder, er rutschte. Das Gleiten wurden zum Schliddern. Die Mädchen suchten Halt. Es gelang ihnen nicht, nur auf das eine Auge zu schauen. Sie fragten nach den vergangenen Jahren. Ihre Fragen waren allgemeine Fragen, schon um die persönliche Anrede zu vermeiden, fragten die Schwestern nach Sieg und Niederlage. Ernst Ludwig Würsich konnte keine ihrer Fragen beantworten. Wenn sich sein Mund verzog, sah es aus, als habe er große Schmerzen und versuche dennoch ein Lächeln. Ein Lächeln, das diese jungen Frauen, zu denen er seine Töchter gediehen fand, vertrösten sollte. Die Zunge klebte ihm im Mund, der Schmerz füllte ihn aus.
Helene klopfte an die Tür ihrer Mutter und schob sie ungeachtet der dahinter gestapelten Bücher und Kleider und Stoffe auf.
Unser Vater ist heimgekehrt, flüsterte Helene in die Dunkelheit.
Wer?
Unser Vater, dein Mann.
Es ist nachts, ich schlafe schon.
Helene hielt still. Vielleicht hatte die Mutter ihre Worte nicht verstanden? Helene stand in der Tür und wollte noch nicht gehen.
Nun geh schon. Ich werde kommen, sobald es mir besser geht.
Helene zögerte. Sie konnte nicht glauben, dass die Mutter in ihrem Bett bleiben wollte. Doch dann hörte sie, wie sich die Mutter wälzte und Decken über sich schlug.
Leise zog Helene sich zurück, sie schloss die Tür.
Offenbar ging es der Mutter an den folgenden Tagen nicht gut genug. Und so wurde der verletzte Hausherr an ihrer Zimmertür vorbei hinauf ins oberste Stockwerk getragen und dort auf die rechte Seite des Ehebettes gelegt. Innerhalb weniger Tage konnte das eingestaubte eheliche Schlafgemach in ein Kranken zimmer umgewandelt werden. Auf Marthas Geheiß half Helene dem Mariechen einen Waschtisch hinaufzutragen. Während der beschwerlichen Reise hatte sich der Stumpf des Beines erneut entzündet. Hinzu kamen jetzt leichte Temperaturen und jene alle anderen Sinne betäubenden Schmerzen, die er nicht zum ersten Mal im fehlenden Bein spürte.
Dem Vater zuliebe ordnete Martha eine wohldosierte Trunkenheit an. Sie sollte so lange dauern, bis es Martha gelungen wäre, aus dem Städtischen Krankenhaus Morphium und Kokain in wirksamen Mengen zu entwenden. Seit geraumer Zeit arbeitete Martha bei Leontine im Operationssaal; sie kannte die Augenblicke, in denen sich Substanzen entwenden ließen. Die Oberschwester hatte zwar als einzige den Schlüssel zum Giftschrank, aber es gab gewisse Situationen, in denen sie den Schlüssel Leontine anvertrauen musste. Wer wollte später noch messen, wieviel Milligramm dieser oder jener Kranke erhalten hatte?
Am nächsten Morgen nähte das Hausmädchen ein neues Nachthemd für den Vater. Das Fenster stand offen, von draußen waren die Krähen zu hören, die in der jungen Ulme saßen. Das Mariechen hatte die Federbetten der Kinder zum Lüften auf das Fensterbrett gelegt. Die Betten dufteten am Abend nach Holz und Kohle. Helene war hinunter in die Druckerei gegangen und saß seit geraumer Zeit über dem dicken Buch mit der monat lichen Abrechnung, als es läutete.
Vor der Tür wartete ein feingekleideter Herr. Er stand leicht vornübergebeugt. Der linke Arm fehlte ihm, mit dem rechten stützte er sich auf einen Stock. Helene kannte den Mann vom Sehen, er war früher manchmal zu Gast gewesen.
Grumbach, stellte er sich vor. Er räusperte sich. Er habe gehört, dass sein alter Freund und Buchdruckmeister, der Verleger seiner ersten Gedichte, wieder daheim wäre. Ein Räuspern. Sechs Jahre habe man sich nicht gesehen, da wolle er es sich nicht nehmen lassen, ihm einen kurzen Besuch abzustatten. Das feuchte Räuspern war offenbar weniger Verlegenheit als ständige Notwendigkeit. Grumbach wollte sich nicht setzen.
Wir haben uns lang nicht gesehen, hörte Helene ihn zum Vater sagen. Sie konnte Herrn Grumbach nicht aus dem Auge lassen, sie fürchtete, dass er mit seinem Räuspern dem Vater zu nahe käme. Der Vater schaute ihn an, er bewegte die Lippen.
Vielleicht geht es ihm morgen besser? Der Gast schien diese Frage nur für sich zu stellen, er sah weder Helene noch das Hausmädchen an. Räuspernd trat er den Rückweg an.
Wider Erwarten läutete der Gast am folgenden Tag erneut.
Seine Augen leuchteten, als er Martha entdeckte. Sie war an diesem Tag nicht ins Krankenhaus gegangen. Schon an der Tür ließ er sich den Schirm abnehmen, lehnte aber noch höflich die Tasse Tee ab, die ihm Helene anbot.
Am folgenden Tag nahm er sie; und von jetzt an kam er täglich zu Besuch. Man hatte ihn nicht einladen müssen. Er trank den Tee in großen Zügen, leerte eine Tasse nach der anderen und kaute geräuschvoll auf dem Brocken Kandiszucker. Schon im Laufe eines Besuches musste die Schale aufgefüllt werden. Der Gast war einarmig. Mit dem vorhandenen Daumen wies er auf seinen Rücken, er sei mit einem Splitter aus dem Krieg heimgekehrt, der ihn tief vornübergeneigt nicht ohne Stock gehen lasse, er mied das Wort Buckel, doch er freue sich bester Laune. Er räusperte sich. Helene musste sich fragen, ob der Splitter im Rücken die Lungen verletzt haben könnte und er sich deshalb in einem fort räusperte. Über die vergangenen Monate habe er so viele Gedichte geschrieben, dass sie nun gemeinsam eine siebenbändige Werkausgabe vorbereiten könnten, das sagte der Gast vergnügt. Er wollte nicht bemerken, dass ihm sein guter alter Freund nicht antworten konnte — nach der letzten Spritze seiner schönen und großen Tochter schien dem Kranken der nötige Speichel für jegliche Worte zu fehlen.