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Obwohl Martha Helene hinunterschickte, wo sie dem Mariechen beim Entkernen, Erhitzen und Einwecken der Pflaumen helfen sollte, blieb Helene sitzen. Der süffige Pflaumengeruch stieg bis unters Dach, er drang in jede Ritze und nistete sich in Helenes Haar. Sie lehnte sich zurück. Niemals wollte sie diesen Gast mit ihrem Vater und ihrer Martha allein lassen.

Wie schön, dass wir nun endlich wieder Zeit zum Plaudern haben, sagte Grumbach, er schätzte wohl das gewohnte Schweigen seines Freundes.

Helene betrachtete den Spazierstock, dessen feingeschnitzter Griff aus Elfenbein in einem sonderbaren Kontrast zu den drei Plaketten stand, die er an den Stock geschraubt hatte. Es waren dies eine farbige, eine goldene und eine silberne Plakette, deren Prägung Helene auf die Entfernung nicht erkennen konnte. Am unteren Ende des Stockes war an der nachträglichen Schnitzung deutlich erkennbar, dass er über der Metallspitze einmal gekürzt worden sein musste. Vermutlich besaß Grumbach diesen Stock schon unzählige Jahre und konnte ihn nach dem Krieg nicht mehr in seiner ursprünglichen Länge verwenden.

Der Gast ließ Martha nicht aus den Augen. Martha streckte sich jetzt, um das Oberfenster zu öffnen.

Du erinnerst dich doch an mich, den alten Onkel Gustav? Gusti? Fragte der Gast in Marthas Richtung und freute sich gewiss über ihr großzügiges Lächeln, in dem alles liegen mochte, das Erkennen wie eine Freude des Wiedersehens.

Grumbach hatte in dem Ohrensessel neben dem Bett seines Freundes Platz genommen, konnte aber nur vornübergebeugt darin sitzen. Begleitet vom bekannten Räuspern und einem leisen Schmatzen lutschte er den Brocken Kandis. So ein Brocken verlangte mutige Zähne, aber seit dem Mann erst kürzlich der dritte Backenzahn rausgebrochen war, zog er das Lutschen vor.

Onkel Gustav, flüsterte Helene bei nächster Gelegenheit Martha zu, sie musste kichern. Helene erschien der Versuch einer Vertrautheit und die dafür entdeckte Bezeichnung des Wortes Onkel so plump und abwegig, dass ihr trotz der offenbaren Gebrechlichkeit von Onkel Gustav nach Lachen war. Sein Schlürfen bei halbgeöffnetem Mund setzte kleine Akzente in der Stille. Helene durfte ihn nicht aus den Augen lassen. Sie beobachtete, wie sein Blick über Marthas Gestalt wanderte, so, als stünde ihm mit dem Gastrecht nun auch ein gewisses Recht der ungezügelten Betrachtung zu. Das hochgesteckte schimmernde Haar, der lange weiße Hals, die schlanke Taille, und erst das, was darunter kam. Das alles ließ dem Anschein nach Onkel Gustav Stolz und Frohlocken empfinden. War es ihm bis vor wenigen Tagen lediglich vergönnt, Martha von ferne zu beobachten, so fühlte er sich ihr nun endlich angemessen nah. Wie die meisten Männer im Umkreis der Druckerei hatte auch er ihr Heranwachsen mit jener seltsamen Mischung aus Staunen und schwer zu unterdrückender Gier verfolgt. Grumbach bewachte das Einhalten der gebührenden Distanz anderer Verehrer so peinlich, wie diese ihn im Auge hatten. Die Heimkehr und das Wiedersehen des alten Freundes beglückte ihn also nicht minder als die mit ihr verbundene Gelegenheit, ungestört Zutritt zum Haus und zur Gegenwart seiner Töchter zu erhalten. Wenn der Gast dabei zusah, wie Martha jetzt sorgsam die Spritze reinigte, ihm den Rücken zukehrte und am Waschtisch mit Tüchern und Essenzen der Wundheilung hantierte, so war es ein Leichtes, den Krückstock und die auf ihm ruhende Hand wie zufällig einige Zentimeter zur Seite sinken zu lassen, um bei ihrer nächsten Wendung mit dem Handrücken den rauen Stoff von Marthas Kleiderschürze zu spüren. Die schlanke Taille und was erst darunter kam. Offenbar bemerkte Martha die Berührung nicht, gewiss waren die Falten von Kleid und Schürze zu dicht, immer wieder drehte und wendete sie sich vor dem Waschtisch. Der Gast genoss mit diebischer Freude das von ihren Bewegungen ausgelöste Streicheln seines Handrückens.

Helene beobachtete, wie Onkel Gustav die Nase hob und schnupperte, gewiss entging ihm nichts und bemerkte er den Geruch von Kaffee in der Luft, und während ihn Marthas ungewolltes Streicheln erregte, schwankte er vielleicht, ob er Helene bitten sollte, ihm eine Tasse zu bringen. Es bereitete ihm Vergnügen, die beiden Töchter seines Freundes nach verschiedenen Dingen im Haus umherzuschicken. Obwohl Martha ihn ermahnte, in Gegenwart ihres Vaters nicht zu rauchen, hatte er sich von ihr einen Aschenbecher für seine Pfeife bringen lassen, dann ein Glas Wein, und später hatte er auch den Haferbrei nicht abgelehnt, den Helene für ihren Vater gekocht hatte und von dem der Vater kaum etwas hatte essen können.

Wonach es so gut rieche, das wollte Grumbach jeden Tag wissen, wenn er wie zufällig um die Mittagszeit das Haus betrat. Rhabarbergrütze, Bohneneintopf und Kümmel, gestampfte Kartoffeln mit Muskat. Grumbach beteuerte, dass er seit dem Krieg keine Uhr mehr besitze und so ganz ohne Frau und Kinder, da verliere man die Zeit aus dem Auge. Umso erstaunlicher schien es, dass der Gast immer rechtzeitig zur Mittagszeit an die Tür klopfte.

Wenn Martha und Helene ihm von allem etwas angeboten hatten, in der Hoffnung, er wäre dann satt und würde verschwinden, blieb Grumbach sitzen, wippte fröhlich mit dem Oberkörper und machte es sich gemütlich. Er schnallte den Holzarm ab und drückte ihn ganz selbstverständlich Helene in die Hand, damit sie ihn in die Ecke stellte.

Herrlich, wie alles wächst und gedeiht, sagte der Gast und tätschelte mit den Augen Marthas Rücken. Wenn sie des Vaters Bett machte, sich weit vornüber neigte, um die Laken festzustecken, ihre Schürze sich hinten leicht öffnete und das Kleid darunter zum Vorschein kam, dann war dem Mann, als beuge sie sich nur für ihn.

Alles verkommen, sagte Helenes Vater und blinzelte.

Was, Vater, was ist verkommen? Martha stand wieder am Waschtisch und der Gast im Ohrensessel ließ sich von ihrer Schürze den Handrücken streicheln.

Das Haus, schaut euch mal die Blätter an, Blätter voll Farbe, große Blätter.

Tatsächlich war in den Jahren seiner Abwesenheit wenig im Haus gemacht worden. Niemand kümmerte sich um die Farbe, die hier oben unter dem Dach welkte und wie alte Haut von der Wand blätterte.

Dass sein Freund und Vater der Mädchen sich über den Zustand des Hauses wunderte, störte Grumbach nicht bei seiner stillen Lust. Zu süß schien ihm die Berührung von Marthas Kleid. Erst als Helene aufstand, drehte sich Martha zu ihnen um. Ihre zart geröteten Wangen leuchteten, ihre feinen Grübchen betörten. Die Unschuld, die der Gast in ihrem Augenaufschlag vermuten konnte, ließ ihn vielleicht Scham empfinden. Helene hoffte das.

Kann ich dir helfen? fragte Helene und schnitt mit ihrem Blick den Gast, der gern Onkel Gustav genannt werden wollte.

Martha schüttelte den Kopf. Helene drängelte sich zwischen Martha und dem Gast vorbei, sie kniete am Kopfende des Bettes nieder.

Sind Sie wach? Helene flüsterte. Seit der Rückkehr des Vaters konnte sie nicht anders als Sie zu ihm sagen. Ihm fehlte die Stimme und Aufmerksamkeit, um die Fremdheit zwischen ihnen zu bannen.

Vater, ich bin es, die Kleine. Ihr Goldblatt.

Helene nahm die Hand des Vaters in ihre und küsste sie. Bestimmt fragen Sie sich, was wir die ganze Zeit während Ihrer Abwesenheit gemacht haben. Ihre Stimme klang beschwörend. Es war nicht erkennbar, ob der Vater hörte, was sie sagte. Wir sind in die Schule gegangen. Martha hat mir Etüden beigebracht, die Ödnis, dann das Wohltemperierte Klavier, Vater. Ich fürchte, mir fehlt die Geduld für das Klavierspiel. Wir haben den Arthur Cohen vor gut drei Jahren mit seinem Gepäck zur Eisenbahn gebracht. Hat Martha Ihnen davon erzählt? Stellen Sie sich vor, der Arthur konnte nicht in den Krieg. Sie hatten ihn nicht erfasst.