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Jud, unterbrach Grumbach Helenes Raunen, er lehnte sich in seinem Ohrensessel zurück und fügte mit einem abfälligen Schnalzen hinzu, wer erfasst den schon?

Helene drehte sich nur halb zu ihm um, so weit, dass er ihren Blick auf seinem Handrücken an Marthas Kleid bemerken musste, und kniff die Augen zusammen. Der Gast schnaufte, ließ aber seine Hand an Marthas Schürze. Das musste ihm der angemessene Lohn seines Schweigens sein. Helene wandte sich zurück zum Vater, küsste die Innenfläche seiner Hand, den Zeigefinger, jeden Finger einzeln, und fuhr fort.

Als Arthur sich meldete, hieß es, ohne nachweislichen Wohnsitz in Bautzen sei er nicht erfasst und man wolle ihn keinem Regiment zuordnen. Arthur protestierte, bis man ihn untersuchte und ihm sagte, man könne ihn wegen einer Rachitis im Krieg nicht gebrauchen. Er solle nur nach Heidelberg fahren, wenn er das notwendige Geld und die Empfehlungen beisammen habe. Von einem jungen Arzt habe man im Zweifel mehr als von einem rachitischen Soldaten.

Der Vater räusperte sich, Helene fuhr fort.

Sie erinnern sich an ihn? Arthur Cohen, der Neffe des Peruquiers. Er hat hier in Bautzen die Schule besucht. Sein Onkel hat sie ihm bezahlt. Ein guter Schüler.

Der Vater begann jetzt lauter zu husten und Martha sah von ihrer Tätigkeit am Waschtisch auf, um einen strengen Blick auf Helene zu werfen. Ihr Blick verriet, dass sie sich vor einer Offenbarung ihrer Bekanntschaft mit Arthur Cohen fürchtete. Weder der Vater noch sein Gast, niemand sollte von den Spaziergängen an die Spree etwas erfahren.

Er studiert jetzt in Heidelberg. Helene machte eine Pause, sie atmete tief, es fiel ihr nicht leicht, die Worte Heidelberg und die erläuternden auszusprechen: Botanik. Genau, er studiert dort Botanik. Und er hat uns einen Brief geschickt, darin schrieb er, dass es dort Frauen gibt, die Medizin studieren.

Der Vater hustete jetzt so laut, dass Helenes Worte untergingen, obgleich sie mit aller Mühe ihre Stimme angehoben hatte. Was noch konnte sie dem Vater zu Heidelberg und dem Studium sagen? Was würde ihn begeistern, sie zögerte, doch schon im nächsten Augenblick erbrach sich der Vater mitsamt dem Husten. Helene sprang zurück, sie riss dabei den Stock des Gastes mit sich. Hätte sie sich nicht an Marthas Kleid festgehalten und sich gleich darauf von den Knien des hinter ihr sitzenden Gastes abgestoßen, sie wäre wohl rückwärts gestolpert und dabei unmittelbar auf den Gast gefallen. Da dieser vornübergebeugt saß, wohl auf dessen Kopf und Schulter.

So aber landete Helene auf dem Boden. Ihr Blick fiel auf die vielen Abzeichen, mit denen der Stock des Gastes geschmückt war. Weimar. Cassel. Bad Wildungen. Helene erhob sich und gab den Stock zurück.

Der Gast schüttelte den Kopf. Er stand auf, nahm seinen Holzarm vom Bett und stellte sich neben Martha. Er flüsterte so laut, dass Helene ihn hören musste: Ich werde um deine Hand anhalten.

Nein, das werden Sie nicht. In Marthas Stimme klang mehr Verachtung als Furcht.

Doch, sagte der Gast. Dann eilte er die Treppe hinunter ins Freie.

Martha und Helene wuschen ihren Vater. Martha zeigte Helene, wie sie die Kompressen am Stumpf des Beines erneuerte und in welchem Verhältnis das Morphium gespritzt werden musste. Vorsicht war geboten, denn die letzte Gabe lag nicht lang zurück. Unter Marthas wachenden Augen setzte Helene dem Vater ihre erste Spritze. Ihr gefiel das gelöste Lächeln, das sie kurz darauf im Gesicht des Vaters entdeckte, ein Lächeln, das zweifellos ihr galt.

Schon am nächsten Tag gegen Mittag klopfte Grumbach erneut an die Tür seines Freundes. Das Mariechen öffnete. Über den Lausitzer Bergen hatte es die ganze Nacht geschneit und beim Öffnen der Tür musste das Mariechen blinzeln, so blendete das Licht von der Straße her. Die Schneeflocken schmückten das Haar des Gastes. Er trug offenbar seinen besten Anzug. In der Hand hielt er zusammen mit dem Stock einen kleinen Korb voller Walnüsse, und auch die Nüsse trugen Schneehäubchen.

Ach, wann immer ich komme, duftet es herrlich in diesem Haus, sagte der ungeladene Gast. Er stampfte mit den Füßen, damit der Schnee von seinen Schuhen fiel. Das Mariechen blieb in der Tür stehen, als sei es unentschlossen, wie weit es den Gast eintreten lassen könne. Grumbachs Blick fiel durch die offene Tür in die Stube zum Esstisch, auf dem drei gefüllte Teller standen. Der Gast drängte sich am Mariechen vorbei ins Haus hinein. Es roch nach Roten Beeten. Aus den Tellern dampfte es und die Suppenlöffel lagen in den Tellern, als habe man eilig aufspringen und den Tisch verlassen müssen. Die leeren Stühle standen etwas abseits. Während sich der Gast umständlich seiner Stiefel entledigte, wagte er einen zweiten neugierigen Blick ins Esszimmer. Das Mariechen schlug die Augen nieder, denn aus dem oberen Stockwerk drang ein Rumpeln und Scheppern. Plötzlich war laut und deutlich die Stimme von Selma Würsich zu hören.

Dein Vater braucht Pflege? Ein hämisch keckerndes Lachen folgte. Weißt du überhaupt, was das ist, Pflege? Spielst hier die Gute und hast nicht mal ein Glas Wasser für deine Mutter. Etwas polterte. Deine Mutter! Hörst du? Wart nur, eines Tages wirst du mich pflegen müssen. Ha. Mich, hörst du? Bis zum Tode. Meine Exkremente mit den Händen halten.

Das keckernde Lachen verebbte, es wandelte sich und wurde zum Schluchzen.

Sehen wir nach dem Rechten, sagte der Gast und stieg entschlossen dem Mariechen voran die Treppe hinauf.

Gerade als der Gast die letzte Stufe erreichte, flog nahe vor seinem Gesicht ein Stiefel an die Wand. Helene hatte sich geduckt, da packte die Mutter schon den zweiten Stiefel und warf auch den mit aller Kraft in Helenes Richtung.

Verfluchtes Balg, du kleine Zecke, du bringst mich noch um!

Helene hielt sich schützend die Arme über den Kopf.

Nein, diesen Gefallen werde ich dir nicht tun. Helenes Antwort kam leise und klar.

Niemand wollte das Erscheinen des Gastes bemerken. Er traute seinen Augen nicht. Wäre ihm das Mariechen nicht auf dichtem Fuß die Treppe hinauf gefolgt und stünde jetzt hinter ihm, versperrte ihm den Weg hinaus, er hätte sich umgedreht und gemacht, dass er unentdeckt wieder davonkäme. Frau Selma Würsich stand dort im Nachthemd, dessen Ausschnitt mehr von ihren Brüsten sehen ließ, als ihr recht sein konnte. Gestickte Margeriten rankten sich entlang der Spitze. Das offene Haar aber wirbelte durch die Luft und ringelte sich auf ihren nackten Schultern, als lebe es. Die silbernen Fäden glänzten. Blindschleichen wanden sich auf ihren Brüsten. Offenbar hatte sie mit keinem Besuch gerechnet und sah ihn auch jetzt nicht, wo er unschlüssig auf der vorletzten Treppenstufe stand und nach einem Ausweg für sich suchte.

Frech bist du, verdorben!

Wer hat mich denn erzogen, Mutter?

Und so etwas ernähre ich in meinem Haus. Die Mutter schnaubte. Schämst du dich nicht?

Martha ernährt uns, Mutter, ist dir das nicht aufgefallen? Helenes Stimme war von herausfordernder Gelassenheit. Ich schreibe dir vielleicht rote und schwarze Zahlen in die Bücher der Druckerei, aber Martha ernährt uns. Was glaubst du, von welchem Geld wir am Sonnabend auf dem Markt bezahlen? Von deinem? Gibt es das, dein Geld?

Aah, du kleiner Teufel, scher dich davon, mach, dass du wegkommst! Die Mutter riss ein Buch aus dem Regal und warf es in Helenes Richtung.

Die gute Reue. Helenes Stimme war leise. Warum hast du mich geboren, Mutter? Warum. Warum nicht zu den Engeln geschickt?

Ehe der Gast ausweichen konnte, prallte ein Buch von seiner Schulter ab.

Sag bloß, du hast nicht gewusst wie?

Erst jetzt bemerkte Selma Würsich den Gast. Tränen schossen aus ihren Augen, sie sank auf die Knie und flehte den Gast an: Haben Sie das gehört, mein Herr? Helfen Sie mir! Das will meine Tochter sein. Sie schluchzte haltlos.