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Verzeihen Sie. Der Gast stammelte. Unschlüssig stand er an der Treppe, mit einer Hand stützte er sich auf seinen Stock, Weimar, Cassel, Bad Wildungen, wo wart ihr? Er lehnte sich an das Geländer, er zitterte.

Und das will meine Tochter sein! Die Mutter brüllte jetzt, die Stadt sollte von ihrem Unglück erfahren, die Menschheit. Ihre Seele wollte zu mir, sie war es, die mich gewählt hat.

Helene würdigte den Gast keines Blickes, leise murmelte sie, von Wollen kann keine Rede sein.

Sie richtete sich auf, ordnete ihr Haar und ging zielstrebig die Treppe hinauf zu ihrem Vater, der auf der rechten Seite des Ehebettes lag und gewiss ihre Pflege und Hilfe benötigte. Noch ehe der Gast Helene folgen konnte, hinauf, wo er Martha vermuten durf te, kroch ihm die Frau seines alten Freundes in den Weg. Sie packte sein Bein, umfasste es mit beiden Händen, sie stöhnte, sie winselte. Der Gast drehte sich um, mit den Augen suchte er das Mariechen, das Mariechen war verschwunden. Er war allein mit der Fremden.

Helene versuchte oben die Tür zu öffnen, aber vergeblich. Die Tür ließ sich nicht öffnen, und so setzte sich Helene ins Dunkel der obersten Stufe und blickte unbemerkt durch die Stäbe des Geländers hinab zu ihrer Mutter. Die umklammerte Grumbachs Bein und robbte dabei den Boden entlang; vergeblich versuchte Grumbach ihr zu entkommen.

Haben Sie das gesehen? Ihre Nägel krallten sich in Grum bachs Fesseln.

Verzeihen Sie, wiederholte der Gast, ah, verzeihen Sie. Kann ich Ihnen aufhelfen?

Wenigstens ein Mensch mit Herz in diesem Haus. Helenes Mutter reckte dem Gast ihre Hand entgegen, zog sich schwer an ihm hoch und stützte sich mit ihren nackten Armen schließlich auf ihn und seinen Stock, dass er ins Schwanken geriet. Sein Blick fiel auf ihre Brüste und von dort zur zarten Stickerei mit Margeriten, zurück zu den Brüsten, wo sich die dunkel silbernen Locken wanden. Schließlich riss er diesen Blick los und richtete ihn mühsam auf den Boden.

Kaum stand sie wieder aufrecht, sah sie auf den gebückten Mann vor sich herab.

Wer sind Sie? Das fragte sie verwundert.

Sie strich sich die Haare aus dem Gesicht, noch immer schenkte sie ihrem weiten Ausschnitt keine Beachtung. Miss trauisch sah sie den Mann an. Kenne ich Sie? Was machen Sie in unserem Haus?

Grumbach mein Name, Gustav Grumbach. Ihr Mann hat meine Gedichte gedruckt: An die Holde. Grumbach räusperte sich, er versuchte aus der Aufregung ein zutrauliches Lächeln zu formen.

An die Holde? Die Mutter brach in schallendes Gelächter aus.

Der Wechsel vom herzzerreißenden Weinen zum donnernden Lachen war so plötzlich, dass dem Gast ein Schauer über den Rücken laufen musste, vielleicht klopfte sein Herz, zumindest wagte er es nicht, der Frau in die Augen zu blicken. Überhaupt wusste er nicht, wohin er blicken sollte, da ihm wohl auch der Ausschnitt ihres Nachthemds mit den winzigen Brüsten nicht als angemessener Ort des Verweilens erschien. Etwas mehr als zwanzig Jahre kannte er Selma Würsich nun aus der Ferne. Früher hatte sie noch manchmal hinter dem hölzernen Ladentisch der Druckerei gestanden, bestimmt hatte er sich ein paar Male mit ihr unterhalten, nur fiel es ihm in diesem Augenblick nicht mehr ein. Sie hatte sich über die Jahre aus dem städtischen Bild gestohlen. Man hatte sie vergessen, man musste sie vergessen.

Seit seiner Heimkehr aus Verdun hatte Grumbach sie nur ein einziges Mal von Ferne gesehen. Wenn sie es überhaupt war. Dass mit ihr einiges nicht stimmte, erzählten sich die Bewohner der Stadt. Umso mehr musste Gustav Grumbach erleichtert gewesen sein, dass er dieser Fremden seit dem Beginn seiner Besuche im Hause Würsich nie begegnet war.

An die Holde? Selma Würsich hatte ein ernstes Gesicht aufgesetzt, sie fragte es und ließ dabei die Schulter des Gastes nicht los. Und wer ist sie, diese Holde? Wer soll das sein? Während sie noch fragte, schien sie etwas zu suchen, sie befühlte ihren Unterrock und blickte unruhig über die Schultern des Gastes. Zigarette? fragte sie und griff nach einer Schachtel, die auf dem schmalen Regal in Griffweite stand.

Danke nein.

Selma Würsich zündete sich eine der feinen Zigaretten an und atmete tief. Wissen Sie, wer die Holde ist? Ich nehme an, Sie haben da eine bestimmte im Herzen, ja? Sie werden den Daumer kennen? Wehe Lüftchen, lind und lieblich. Die Stimme der Mutter war rau. Wehe! Sagte sie tief und mit drohender Stimme. Wehe! Sie lachte, und das Krächzen tat Helene weh. Helene legte sich beide Hände auf die Ohren.

Prüfend zog Selma Würsich den Rauch ihrer Zigarette ein, in kleinen Wölkchen ließ sie ihn durch die Nasenlöcher entweichen.

Grumbach presste die Worte heraus: Ja, natürlich.

Das war wohl mehr eine Behauptung, so zumindest deutete Helene den Druck hinter seinen Lauten und den rastlosen Blick.

Willst du dein Herz mir schenken, so fang es… begann die Mutter mit bedeutungsvoller Stimme.

… heimlich an. Dass unser beider Denken niemand erraten kann. Natürlich, auch das, ja, beeilte sich der Gast zu sagen — aber er schien für die Gemeinsamkeit keine rechte Freude aufbringen zu können.

Nur haben Sie je darüber nachgedacht, welche Hinterlist in diesem Liebesschwur liegt? Nein? Ja? Welche Polemik. Ich verrate es Ihnen: Er fordert sie zum Schweigen auf, damit ihm selbst die Stimme über das Gemeinsame gehört. Und die ist nicht glücklich. Haben Sie verstanden? Ungeheuer, sowas. Für diese offenkundige Schmäh ihrer Worte und die im Unglück liegende Abkehr von sich selbst muss der Leser weinen. Wenigstens die Leserin, flüsterte sie fast nicht mehr hörbar, dann sagte sie laut zu ihm: Sie aber weinen nicht. Sie wollen triumphieren. An die Holde!

Wieder hörte Helene das böse Lachen ihrer Mutter, dessen Abgrund einem Gast wie diesem nur schwer einsichtig sein konnte. Dieser Heine gehört von Ihnen nicht gelesen. Haben Sie gehört? Sie verraten ihn, noch ehe Sie ihm nahegekommen sind. Was, und Sie lesen ihn aber, ja? Sind Sie noch bei Verstand?

Nicht gelesen?

Nicht von Ihnen. Sie machen aus Ihrem Missverstehen gleich einen ganzen Band. An die Holde. Hören Sie, das geht nicht. Das ist nicht einfach schlecht, schlimm ist das, schlimm.

Verzeihen Sie, gnädige Dame. Der Gast stotterte.

Doch mit dem Verzeihen schien Helenes Mutter so ihre Schwierigkeiten zu haben.

Gnade, die gibt es nicht unter Menschen. Wir sind dafür nicht zuständig.

Verzeihen Sie, Werte. Vielleicht haben Sie recht und ich habe nichts als leeres Stroh gedroschen. Schwamm drüber, verehrte Frau Würsich. Es ist nicht mehr der Rede wert.

Leeres Stroh gedroschen? Hören Sie, Grumbach, dreschen Sie Stroh, soviel Sie wollen. Nur verschonen Sie Ihre Mitmenschen mit sich und Ihren Schwämmen. Die wahre Gnade, die suchen Sie nur bei Ihrem Gott, mein Herr. Helenes Mutter konnte sich über die letzten Worte fassen, sie sprach klar und streng.

Wenn er klug war, dachte Helene, sollte Grumbach jetzt gehen, am besten wortlos. Aber es gehörte offenbar nicht zu seinen Fähigkeiten, einem anderen das letzte Wort zu lassen.

Ich möchte Sie wirklich bitten, hob Grumbach an.

An die Holde! Und wieder hörte Helene das Lachen ihrer Mutter, dessen Abgrund ein Gast wie dieser nicht einmal erahnen und niemals vermessen konnte; was nur gut war.

Helenes Mutter hielt dem Gast den Rest ihrer Zigarette hin.

Und jetzt, mein Herr, nehmen Sie das hier mit vor die Tür. Sie wollen mich bitten? Betteln, Hausieren und Musizieren, Sie wissen schon… Sie entschuldigen mich.

Von oben aus ihrem sicheren Dunkel sah Helene den Gast nicken. Er nahm die Glut der Zigarette, die an seinen Fingern brennen musste. Noch als die Mutter hustend in ihrem Schlafgemach verschwunden war und die Tür hinter sich geschlossen hatte, nickte der Gast. Er stieg vorsichtig, Stock und verglühende Zigarette in einer Hand, die steile Treppe abwärts. Er nickte noch immer, als er unten an der Eingangstür anlangte und auf die Tuchmacherstraße trat. Die Tür fiel ins Schloss.