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Helene stand auf und wollte die Tür zu ihrem Vater öffnen. Sie rüttelte an der Tür.

Lass mich rein, ich bins.

Zuerst blieb es still hinter der Tür, dann aber hörte Helene Marthas leichte Schritte.

Warum hast du nicht geöffnet?

Ich wollte nicht, dass er sie hört.

Warum nicht?

Er hat sie vergessen. Ist dir aufgefallen, dass er in den letzten Wochen nicht mehr nach ihr fragt? Ich könnte ihm nicht sagen, dass sie einen Stock tiefer lebt und ihn einfach nicht sehen möchte.

Martha nahm Helene bei der Hand und zog sie mit sich an das Bett des Vaters.

Wie befreit er aussieht, bemerkte Helene.

Martha blieb stumm.

Findest du nicht, er sieht befreit aus?

Martha antwortete nicht und Helene dachte, er musste froh sein, eine Tochter zu haben, die als fürsorgliche Kranken schwester ihm nicht nur täglich den entzündeten Stumpf seines verlorenen Beines versorgte, sondern ihm auch ein Mittel gegen die Schmerzen spritzte und Tag für Tag bemüht war, sich selbst und ihm die Furcht vor einem mitgebrachten Typhus auszureden. Der Vater konnte keine Flüssigkeiten mehr bei sich behalten, aber dafür gab es einige Erklärungen, die Martha eilig heraufbeschwor, während Helene in medizinischen Lehrbüchern las, angeblich um sich auf ihr Leben als Krankenschwester vorzubereiten, in Wirklichkeit jedoch, um den Wunsch nach einem Studium nicht gänzlich aus den Augen zu verlieren.

Helene setzte sich auf den Stuhl, und während Martha sich anschickte, den gelben Fuß des Vaters zu waschen, nahm sie das oberste Buch des neben ihr liegenden Stapels. Sie blickte nur hin und wieder auf. Sie gab zu bedenken, dass es sich bei dem treppenförmig ansteigenden Fieber doch um einen Typhus handeln könnte, einer, der sich verzögert entwickelte.

Martha sagte nichts dazu. Ihr war keineswegs entgangen, dass sich der Zustand des Vaters seit der Rückkehr erheblich verschlechtert hatte. Aber sie sagte: Du verstehst davon noch nichts.

In den vergangenen Wochen hatte Martha Helene jeden ihrer Handgriffe gezeigt. Abwechselnd betasteten sie den Leib des Vaters. Und der Vater lag ganz wehrlos da, so erschien es Helene. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als die Hände seiner Töchter auf seinem Leib zu dulden. Das war kein Streicheln aus Liebe, sie drückten, als ginge es um Erkenntnis und als nütze ihnen die etwas. Martha erklärte Helene, wo sich welches Organ befand, obwohl Helene das längst wusste. Martha musste bemerken, wie die Milz von Tag zu Tag anschwoll, sie musste wissen, was das bedeutete.

Seit geraumer Zeit konnte Martha nicht mehr morgens zum Krankenhaus gehen. Sie blieb zu Hause, um das Leben ihres Vaters zu bewachen und zu erleichtern. Helene bemerkte, dass Martha sich von Tag zu Tag häufiger kratzte. Nach jedem Besuch am Bett des Vaters kratzte sich Martha jetzt gründlich die Hände, bis hinauf zu den Ellenbogen, sie nahm die Haarbürste zu Hilfe und schrubbte sich schamlos ihren Rücken.

Erst bat sie Helene zögerlich, dann wurde es selbstverständlich, dass Helene die Bettpfannen voller Flüssigkeiten aus dem Zimmer trug, sie mit kochendem Wasser spülte und das Fieberthermometer reinigte. Helene wusch sich die Hände, bis hinauf zu den Ellenbogen, sie schrubbte mit der Nagelbürste die Finger, die Handteller und Handrücken. Es sollte nicht jucken, es durfte nicht jucken. Kaltes Wasser auf die Handgelenke, Seife, viel Seife. Schäumen musste es. Es juckte nicht, nur waschen musste sie sich. Gewissenhaft trug Helene die Daten des Thermometers in die Kurve ein. Martha beobachtete sie dabei.

Du weißt, was die Schwellung der Milz bedeutet, sagte Helene. Martha schaute sie nicht an. Helene wollte Martha helfen, sie wollte wenigstens den Puls des Vaters fühlen, aber Martha stieß sie vom Bett und vom Kranken zurück.

An einem Abend stieg Helene dem süßen Geruch entgegen die Treppe hinauf. Das Faulige nahm ihr fast den Atem. Sie öffnete das Fenster, der Geruch von feuchtem Laub stieg herauf. Ein kühler Oktobertag neigte sich seinem Ende zu. Der Wind ging durch die Ulme, und das Auge des Vaters wollte sich nicht mehr öffnen, er atmete durch den weit geöffneten Mund.

Nicht ohne sie. Martha stand neben Helene, sie fasste nach ihrer Hand, drückte die Hand der kleinen Schwester, dass es beide schmerzte, und wiederholte ihre Worte: Nicht ohne sie.

Martha verließ das Zimmer. Notfalls unter Gewaltanwendung wollte sie die Tür zum Schlafgemach der Mutter aufbrechen.

Seit Tagen war dies der einzige Augenblick, den Helene allein mit ihrem Vater hatte. Helene konnte nur flach atmen. Sie trat an sein Bett. Seine Hand war schwer, und spröde war die Haut. Seine gelbe Haut blieb stehen, als Helene sie mit zwei Fingern anhob. Helene war nicht verwundert, als sie im Schein der Lampe durch die Öffnung des Nachthemds den roten Ausschlag auf seiner Brust sah. Die Hand ihres Vaters war angenehm warm, sein Fieber war Tag für Tag um Zehntelgrade auf vierzig angestiegen.

Von unten hörte sie das Poltern und wütende Schreie. Niemand sollte die Mutter stören. Helene wechselte das Laken, das dem Vater in diesen Tagen innerster Hitze als Decke diente. Unwillkürlich fiel ihr Blick auf den eiternden Stumpf, der süße Duft hatte Maden gelockt. Sie wollte nicht länger hinsehen, es war ihr, als lebe seine Wunde, als lechze der Tod ihr entgegen. Helene schluckte, als sie sein Geschlecht entdeckte — es erschien ihr klein und wie vertrocknet, als wäre es verwelkt und liege nur noch zufällig an jenem Ort. Das Instrument ihrer Zeugung. Helene legte ihre Hand auf die Stirn des Vaters, sie beugte sich über ihn.

Die Worte, ich liebe Sie, flüsterte sie nicht einmal. Allein ihre Lippen formten die Worte, während sie seine Stirn küsste.

Ein Raureif, klein, klein. Mein Täubchen. Wir frieren nicht mehr. Das stammelte der Vater. Seit Wochen hatte er nicht gesprochen. Sie erkannte seine Stimme kaum, aber es musste seine sein. Helene blieb bei ihm, sie ließ ihre Lippen auf seiner Stirn liegen. Ihr Kopf war plötzlich so schwer, dass sie sich mit ihrem Gesicht auf das des Vaters legen wollte. Sie wusste, dass der Vater die Mutter von jeher Täubchen genannt hatte.

Nichts als Tarnung so ein Körper, flüsterte der Vater. Ganz und gar, unsichtbar. Im Bau ist es warm, Täubchen, komm herein zu mir, niemand kann uns entdecken, keiner uns erschrecken. Der Vater nahm die Hände zu seinen Ohren und hielt sie sich zu. Bleibt bei mir, meine Worte, lauft nicht aus. Das Täubchen kommt, mein Täubchen kommt.

Einen Augenblick schämte sich Helene, hatte sie doch die für die Mutter bestimmten, zumindest an die Mutter gerichteten Worte empfangen und würde sie diese für sich behalten.

Erst als das Zittern begann, erhob sich Helene, während sie dem Vater über den Kopf strich. An ihrer Hand blieben un zählige seiner lang gewachsenen Haare kleben. Es waren so viele Haare, die an Helenes Hand klebten. Voller Verwunderung fragte sie sich, wie es sein konnte, dass er überhaupt noch welche auf dem Kopf hatte. Was als Zittern begonnen hatte, wurde heftiger, ein Rütteln ging durch den Körper des Vaters, Speichel floss ihm aus dem Mundwinkel. Helene erwartete, dass er nun blau werde, wie sie es vor einigen Tagen schon einmal erlebt hatte. Sie sagte: Ich bin es, Helene.

Aber inmitten des Zitterns klangen seine Worte unnatürlich klar: Süßes Lächeln, du. Vertraut wir zwei. Nur Granaten kommen, und verraten uns, weil sie so laut sind, und wir zu weich. Zu weich. Es spritzt, pass auf!

Helene wich einen Schritt zurück, damit die ausschlagende Faust des Vaters sie nicht treffen konnte.

Vater, möchtest du etwas trinken?

Ein Bein, ein Bein, das tanzt von ganz allein. Der Vater lachte und mit dem Lachen ebbte sein Zittern ab. Wellen, die sich von ihrem Ursprung lösen. Helene war unsicher, ob er vom verlo renen Bein sprach.

Trinken?

Plötzlich packte die Hand des Vaters Helene, unerwartet kräftig, und hielt sie am Handgelenk fest.