Helene erschrak, sie drehte sich um, doch von Martha weit und breit keine Spur. Lediglich unklare Geräusche aus dem un teren Stockwerk zeugten davon, dass Martha sich mit dem Ma riechen Zutritt erobert hatte. Helene wand sich aus dem Griff ihres Vaters, der im nächsten Augenblick zu schlafen schien. Sie nahm die Karaffe Wasser vom Nachttisch und goss etwas davon in das Fläschchen, das Martha während der vergangenen Tage benutzt hatte, um dem Vater Wasser in den Mund zu flößen.
Kaum setzte sie das Fläschchen an die Lippen des Vaters, sagte dieser mitten aus der Haltung des Schlafes heraus: Getrunkene Weiber in meinem Mund.
Er konnte nicht trinken, kein Wasser mehr aufnehmen. Mit den Fingern benetzte sie die Lippen ihres Vaters.
Helene nahm die Spritze zuhilfe, sie zog die Nadel ab und träufelte ihm Wasser in den Mund.
Dann steckte sie die Nadel wieder auf und zog die Spritze bis zum untersten Strich mit Morphium auf, sie hielt die Spritze in die Höhe und presste die Luft hinaus. Da die Arme des Vaters vollkommen zerstochen waren, wollte sie ihm die Spritze in den Hals setzen. Dort hatte sich ein Abszess gebildet, aber gleich daneben entdeckte sie eine gute Stelle für den Einstich. Sie drückte langsam.
Später musste sie vor Erschöpfung an seinem Bett eingeschlafen sein. Es dämmerte, als sie den Kopf hob und hörte, unter welchen Flüchen sich die Mutter näherte. Offenbar wurde sie gewaltsam die Treppe heraufbefördert. Da war Marthas Stimme, laut und heftig: Sieh ihn dir an, Mutter.
Die Tür wurde geöffnet, die Mutter wehrte sich, sie wollte das Zimmer nicht betreten.
Ich will das nicht, sagte die Mutter wieder und wieder, ich will das nicht. Sie schlug um sich. Aber Martha und das Mariechen nahmen keine Rücksicht, sie schoben die Mutter zur Tür hinein und stießen sie, die sich jetzt an den beiden festklammerte, mit aller Kraft auf das Bett des Vaters.
Einen Augenblick war Stille. Die Mutter rappelte sich. Sie entdeckte ihren Mann, den sie sechs Jahre nicht gesehen hatte. Sie schloss die Augen.
Was hat er dir getan? Martha durchbrach das Schweigen, sie konnte ihre Empörung nicht verbergen. Zum ersten Mal in ihrem Leben hörte Helene das Mariechen in ihrer Sprache sprechen, ein weicher Singsang, den sie vom Markt her gut kannte. Das Mariechen faltete die Hände, offenbar betete sie.
Dessen ungeachtet tastete sich die Mutter auf dem Bett vorwärts, wie ein blindes Hündchen, ein Welpe, der seinen Weg nicht kennt, aber aufnimmt. Sie erfasste das Laken des Vaters und neigte sich über den Kranken. Als er das gesunde Auge öffnete, flüsterte sie mit einer Zärtlichkeit, die Helene erschrecken ließ: Sag bloß, du lebst noch.
Ihr Kopf sank auf die Brust des Vaters und Helene war sicher, dass sie nun weinen würde. Aber sie blieb reglos und still.
Mein Täubchen, sagte der Vater, mühsam suchte er Worte zusammen. Ich habe dir kein Zimmer in meinem Haus gegeben, damit du dich darin einschließt.
Die Mutter wich zurück.
Doch, sagte sie leise. All die Dinge in meinem Gemach, die Berge und Täler, die sie bilden, darin bin ich zu Hause. Nirgend sonst. Ich bin das. Wer schätzt, mit welcher Sorgfalt meine Trampelpfade angelegt sind? Lichtungen. Deine Töchter wollten einfach die Bautzener Nachrichten entsorgen, Ordnung machen, nennen sie das. Sie haben den Chiffon fortgerissen, als berge er nichts, sie haben die Ausgaben vom letzten Dezember auseinandergepflückt, dass ich tagelang Mühe hatte, sie wieder auf einen Stapel zu bringen. Thematisch. Ihren Themen folgend, Thema, Gegenstand und Stoff, tithenai, setzen, stellen, legen, nicht dem Datum nach. Ich bin ein Nachttier. Bei mir ist es dunkel und doch nie dunkel genug.
Helene warf über das Bett und die Eltern hinweg einen Blick zu Martha. Die Eltern waren so miteinander beschäftigt, dass Helene sich wie im Theater fühlte. Vielleicht dachte Martha dasselbe wie sie. Die Mutter sei am Herzen erblindet, das hatte Martha einmal gesagt, als Helene ihre Schwester gefragt hatte, was die Mutter habe. Sie könne nur noch Dinge wahrnehmen, keine Menschen mehr, deshalb sammele sie die alten Töpfe, die löchrigen Tücher und gewöhnlichen Obstkerne. Man konnte nie wissen, wozu man das eine und andere eines Tages brauchte. Erst kürzlich nähte sie sich einen Pfirsichkern als Knopf an ihren wollenen Umhang. In einer gebogenen Baumwurzel entdeckte die Mutter ein Pferd und flocht ihm die jüngst abgeschnittenen Haare einer Tochter statt eines Schweifes an den Hintern. Durch das Loch eines Emaille-Topfes, auf dem in großen Buchstaben Seife stand, zog sie einen Wollfaden, an den sie verschiedene Knöpfe und Steinchen knotete, die sich in den vergangenen Jahren angesammelt hatten. Diesen Seifentopf hatte sie über die Tür ihres Schlafzimmers gehängt, als Glocke, damit sie noch im Dämmerzustand gewarnt wurde, wenn jemand ihr Gemach betrat. Helene fiel ein Spaziergang vor vielen Jahren ein, vielleicht die letzte gemeinsame Unternehmung, bevor der Vater in den Krieg gezogen war. Es war ein Spaziergang, den die Mutter nur widerwillig und nach mehrmaligen Bitten ihres Mannes mit ihrer Familie unternommen hatte. Sie hatte sich plötzlich gebückt, das abgesprungene Eisen eines Wagens aufgehoben und glücklich ausgestoßen: Heureka! Sie erkannte die Erde im Eisen und das Feuer in seiner Form. Nahm sie es auf, in die Luft und mit nach Hause, wo sie ihm als Schuhanzieher eine neue Bestimmung zuwies, erkannte sie eine Seele im Ding. Sie sprach ihm die Seele zu, verlieh sie gewissermaßen. Die Mutter als Gott. Alles sollte sein Dasein einzig durch sie erfahren. Heureka, über die Bedeutung des Wortes hatte Helene häufig nachdenken müssen. Nur ihre jüngere Tochter konnte die Mutter nicht mehr erkennen, eben blind am Herzen, wie Martha sagte, dass sie niemanden mehr sehen konnte; ertragen konnte sie lediglich jene Menschen, die ihr vor dem Tod der vier Söhne erschienen waren.
Helene betrachtete ihre Mutter, die von sich als Nachttier sprach. Die Kunde von ihrer Sorge um ihre Pfade und Lichtungen und ihr Dasein gab, und die bei all diesen Geständnissen wie eine glänzende Darstellerin wirkte. Das Böse war ihr zum Wesen geworden: Was zählte, war die Wirkung. Helene konnte sich irren. Der böse Schein war ihr die einzig mögliche Rüstung und das böse Wort die Waffe im Sieg über das, was beide einmal verbunden hatte, Mann und Frau. Etwas an dieser Frau erschien Helene so unermesslich falsch, so unbarmherzig auf sich selbst bezogen ohne den winzigsten Schimmer einer Liebe oder auch nur eines Blickes für den Vater, dass Helene nicht anders konnte, als ihre Mutter zu hassen.
Der Vater bewegte seinen Mund, er kämpfte mit einem Kiefer, der ihm nicht gehorchen wollte. Und dann sagte er deutlich: Ich wollte dich sehen, mein Täubchen. Wegen dir bin ich hier.
Du hättest nicht gehen dürfen.
Da war kein Leid mehr in der Stimme der Mutter, alles Leid war zur Gewissheit erstarrt. Deine Töchter wollten meine Bücher entsorgen, aber ich habe dir einen Satz gerettet, einen meines Geliebten, der mich über deine Abwesenheit tröstete.
Ich bin froh, dass du Trost hattest. Die Stimme des Vaters war schwach und bar jeden Spottes.
Sein Name ist Machiavell, du erinnerst dich seiner? Höre, das erste Gesetz für jedwedes Wesen heißt: Erhalte dich! Lebe! — Ihr sät Schierling und tut so, als sähet Ihr Ähren reifen!
Mein Bein ist fort, schau, jetzt bleibe ich. Der Vater bemühte sich um ein Lächeln, ein gütiges. Ein einvernehmliches, frommes. Eines, mit dem er früher noch jede Unstimmigkeit zwischen ihnen besänftigen konnte.
Hier wäre es nie verloren gegangen, hier, bei mir.
Der Vater schwieg. Helene verspürte den dringenden Wunsch, ihn zu verteidigen, sie wollte etwas sagen, das sein Gehen vor sechs Jahren gerechtfertigt hätte, aber ihr fiel nichts ein. Deshalb sagte sie: Mutter, er ist für uns alle in den Krieg gegangen, er hat für uns alle sein Bein verloren.
Nein, die Mutter schüttelte den Kopf. Für mich nicht.
Sie stand auf.
Sie ging aus der Tür und drehte sich noch einmal um, ohne Helene dabei eines Blickes zu würdigen, sagte sie: Und misch dich da nicht ein, Kind. Was weißt du schon von mir und ihm?