Martha folgte der Mutter ins Treppenhaus, sie war unerschrocken, sie ließ sich nicht beeindrucken.
Nun trat diese herzensblinde Mutter, von der Helene vor allem Befehle und sich selbst aus der Welt ausschließende Gedanken kannte, zurück an das Bett ihres sterbenden Mannes, sie wusste ihre Töchter in ihrem Rücken, und doch sagte sie die Worte: Ich sterbe nicht zum ersten Mal.
Helene griff nach Marthas Hand, ihr war nach Lachen zumute. Wie oft hatte sie die Mutter schon diesen Satz sprechen hören, meist war er die Einleitung zur Forderung nach mehr Fleiß im Haushalt, größerer Ehrerbietung oder einem Botengang gewesen, manchmal eine bloße Erklärung, deren Absicht nicht leicht entzifferbar war und über deren Ziel sich die Mädchen mitunter stundenlang Gedanken machten. Doch hier am Sterbebett ihres Mannes galt der Mutter offensichtlich nichts etwas als die eigene Ergriffenheit und die Niederung eines Fühlens, das nur noch für sich selbst langte.
Martha löste ihre Hand aus Helenes. Sie packte die Mutter an der Schulter. Siehst du nicht, dass er es ist, der stirbt? Vater stirbt. Nicht du, es geht hier nicht um dein Sterben, begreif das endlich.
Nicht? Die Mutter sah Martha erstaunt an.
Nein. Martha schüttelte den Kopf, als müsse sie die Mutter überzeugen.
Der ratlose Blick der Mutter fiel plötzlich auf Helene. Ein Lächeln trat in ihr Gesicht, anscheinend entdeckte sie einen Menschen, den sie lange nicht gesehen hatte. Komm her, meine Tochter. Das sagte sie zu Helene.
Helene wagte keine Bewegung mehr, sie wollte sich der Mutter keinen Zentimeter nähern, keinen noch so kleinen Schritt. Am liebsten hätte sie das Zimmer verlassen. Sie mied weniger die im nächsten Augenblick drohende Abweisung der Mutter als eine Berührung, eine Berührung, die etwas wie Ansteckung mit sich bringen könnte. Helene spürte die alte Furcht in sich aufkommen, sie könne eines Tages erblinden wie diese Mutter. Das Lächeln der Mutter, eben noch zutraulich, erfror. Helene kannte nur einen Albtraum, der sie seit Jahren immer wieder heimsuchte: Zwei Götter, die aussahen wie Apollo auf dem Stich über dem Papierregal im Verkaufsraum der Druckerei. Die beiden Götter stritten sich um ihre alleinige Daseinsberechtigung, jeder brüllte aus vollem Halse: Ich! Gleichzeitig riefen sie: Ich bin der Herr, dein Gott. Und es wurde finster um Helene. So finster, dass sie nichts mehr sehen konnte. In diesen Träumen tastete sie sich vorwärts, sie fühlte Glitschiges und Schnecken, Heißes und Feuer und schließlich das Nichts, in das sie fiel. Ehe sie aufschlagen konnte, erwachte sie jedes Mal, ihr Herz raste, sie drückte ihre Nase in den Rücken der gleichmäßig atmenden Martha, und während ihr das Nachthemd nasskalt am Rücken klebte, betete sie zu Gott, er möge sie von diesem Albtraum befreien. Doch Gott zürnte offenbar. Der Albtraum kehrte wieder. Vielleicht war er nur beleidigt. Helene wusste warum, weil er ahnte, dass Helene ihm eine Gestalt zudachte, es war die Gestalt eines stattlichen Apollo, und nicht nur das, sie sah ihn doppelt, sie sah den Bruder, und während sie zu dem einen betete, wandte sie dem anderen den Rücken zu — und schließlich ließ allein ihr Gebet einem Gott keine andere Wahl als den Zorn.
Im nächsten Augenblick, den sie erstarrt dastand und längst deutlich war, dass sie der Aufforderung ihrer Mutter nicht nachkommen wollte und konnte, fiel ihr ein, wie die Mutter vor Jahren auf dem Protschenberg über ihren Gott gesprochen hatte und den des Vaters, als rivalisiere ihrer beider Glaube. Dass die Mutter die Menschen als Erdwürmer bezeichnete, empfand Helene als Ausdruck des Hasses, den ihr die Mutter von jeher mitteilen wollte und der Früchte zeigte, wenn Helene von den nackten Schnecken träumte, um in ein Nichts zu fallen, das ihr wie der mütterliche Schoß erschien.
Helene wollte sich waschen, die Hände waschen bis zum Ellenbogen, den Hals, das Haar. Alles musste gewaschen werden. Ihre Gedanken drehten sich. Sie wandte sich ab und stolperte die Treppe hinunter. Sie hörte das Mariechen hinter sich rufen, sie hörte, wie Martha ihren Namen rief, aber sie konnte nichts denken und nicht einhalten, sie musste laufen. Sie öffnete die Haustür und rannte die Tuchmacherstraße hinauf und über den Lauengraben bis zur Kronprinzenbrücke. Dort tastete sie sich auf Zehenspitzen im Dunkeln unterhalb des Bürgergartens die Böschung zur Spree hinab, mal konnte sie sich mit den Händen am dicken Fundament der Brücke halten, mal hielt sie sich an Büschen und Bäumen. Sie lief auf der unteren Straße am Lattenzaun entlang, vorbei am Restaurant zur Hopfenblüte, wo noch reger Betrieb herrschte, Tanzmusik erschallte, laut, die Menschen wollten endlich mit dem Krieg und seinem Schweigen und ihrer Niederlage brechen, und erst als sie unten am Wehr anlangte und in der Finsternis nichts als das Glucksen und Rauschen des Flusses hörte, konnte sie stehenbleiben. Sie ging in die Hocke und hielt ihre Hände in das eisige Wasser. Nebel hing in dem Flussbett und Helene lauschte auf ihren Atem, der ruhiger wurde.
Spät, als die Musik aus dem Gasthaus verstummt war und ihre Kleider feucht und kalt von der Nacht und dem Fluss geworden waren, kehrte sie nach Hause zurück. Sie schlich auf Zehenspitzen hinauf in ihr dunkles Zimmer, tastete nach Martha und schlüpfte zu ihr unter die Decke. Martha legte einen Arm über sie und ein Bein, ihr schweres, langes Bein, unter dem sich Helene geborgen fühlte.
Helene stand am Fenster und zerkratzte mit dem Fingernagel die Blätter der Eisblumen. Eine feine Schicht Eis, noch glatt, das Schaben der Blumen, schon weiß. Kleiner Haufen, winzige Kristalle. Der Vater ist tot. Martha hatte ihr das am Morgen gesagt. Helene suchte die Worte einzeln nach ihrer Bedeutung ab. Widersprachen sich nicht schon ist und tot, sein und haben? Er hatte kein Leben mehr, noch gab es den, der irgendetwas sein eigen nennen konnte. Wie wollte es sich auch besitzen lassen, so ein Leben? Sie fragte sich, warum Martha sie in der Nacht nicht geweckt hatte, damit auch sie die Hand des Vaters hätte halten können. Martha war allein bei ihm gewesen.
Wie war das?
Was?
Wie ist er gestorben?
Du hast ihn doch gesehen, Engelchen.
Aber das letzte Atmen, was kam danach?
Nichts. Martha sah Helene mit offenen Augen an, Augen, die nicht blinzelten und die sagen wollten, sie können nicht lügen. Helene wusste, dass Martha ihr darüber nicht mehr sagen würde, selbst wenn sie etwas wüsste. Sie würde es für sich behalten. Danach kam also nichts. Helene hauchte ihren Atem gegen die Eisblätter, sie berührte mit den Lippen die spitzgezackten Blüten. Ihre Lippen klebten am Eis und brannten. Haut abgezogen, feine Lippenhaut. Martha wird ihm die Hände gefaltet, das Laken über sein Gesicht gelegt und das Bett zum Fenster gedreht haben, damit seine Seele zu Gott schauen konnte. Roh das Fleisch der Lippen.
Helene wäre gern geweckt worden. Vielleicht wäre er nicht gestorben, wenn sie seine Hand gehalten hätte. Zumindest nicht so, so einfach, einfach so, nicht ohne sie.
In allen Zimmern des Hauses brannten Kerzen, der Tag wollte nicht beginnen. Die Wolken lagen tief und schwer über den Dächern, sie hingen zwischen den Mauern, die Nacht schaukelte noch in den Wolken.
Wir warten auf den Pfarrer, sagte Martha und setzte sich auf die Treppe.
Du wartest, ich gehe hinauf und lese mein Buch, antwortete Helene. Sie ging hinauf, aber nicht ins Mädchenzimmer, wo ihre Vertrauten warteten, der Werther und die Marquise, deren Ohnmacht Helene noch für sonderbar und unglaublich hielt, sie stieg eine Treppe höher. Über Nacht war es kalt hier oben geworden. Niemand mehr hatte heute Morgen den kleinen Ofen befeuert. Sie trat zum Bett und sah, wie sich seine Nase durch das Laken drückte. Sie fragte sich, wie er jetzt wohl aussah. Doch es entstand kein Bild vor ihren Augen. Selbst die Erinnerung daran, wie er ausgesehen hatte, als er noch lebte, fehlte; gestern hatte sie versucht, ihm etwas Wasser einzuflößen, und er hatte den Mund nicht mehr geöffnet, keinen Spalt weit, von seinem gestrigen Aussehen fehlte in ihr eine Spur. Überall auf dem Kopfkissen hatten Haare geklebt, seine aschfahlen, zuletzt gelblichen, langen Haare, daran erinnerte sie sich. Sie hatte die Haare vom Kopfkissen gezupft und lange in ihrer Hand gehalten, weil sie nicht wusste, wohin damit. Konnte sie das Haar ihres sterbenden Vaters wegwerfen? Sie konnte. Sie hatte sein Haar ins Häuschen auf dem Hof gebracht und wollte es dort in die gefrorene Grube fallen lassen. Das Haar war nicht einfach aus der Hand gefallen. Es hatte sich nicht aus ihrer Hand lösen wollen. Auch im Häuschen hatte sie es abzupfen müssen, von ihren Händen, Haar um Haar. Und es war nicht gefallen, es schwebte, so langsam, dass sie Ekel empfand und nicht hinsehen wollte. Daran erinnerte sich Helene, an sein Haar, gestern, nicht aber an sein Aussehen. Das Laken war weiß, und sonst nichts. Helene hob es an, erst vorsichtig, dann ganz, sie betrachtete ihren Vater. Die Haut über seiner Augenhöhle spiegelte, makellos glatt. Er trug einen Verband um den Kopf, der wohl den Kiefer geschlossen halten sollte, ehe die Totenstarre einsetzte. Helene wunderte sich, dass seine Haut noch schimmerte, das Gesicht noch glänzte. Mit dem Handrücken be rührte sie seine Wange. Das Nichts war nur ein wenig kühl.