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Sie legte das Laken über ihn und verließ den Raum auf Zehenspitzen, sie wollte nicht, dass die Mutter im Zimmer unter ihr ihre Schritte hörte, sie sollte nicht hören, dass sie bei ihm war. Helene stieg die Treppe wieder hinab und stellte sich vor das Fenster. Sie atmete tief ein und hauchte ein Loch in die Eisblumen. Durch das Loch konnte Helene sehen, wie der Pfarrer mit schnellen Schritten vom Kornmarkt herunter kam, er lief dicht an den rußigen Mauern der Häuser entlang, wechselte die Straßenseite und kam herüber zum Haus. Er blieb stehen. Er suchte etwas in seinem langen Mantel, fand ein Taschentuch und schnäuzte sich. Dann läutete er.

Martha bot dem Pfarrer Tee an. Sie sprachen leise und Helene hörte kaum zu. Einmal läutete es und das Mariechen öffnete sechs schwarz gekleideten Herren. In einem erkannte Helene den Bürgermeister Koban, der sich nicht am Krankenbett des Freundes hatte sehen lassen, in einem anderen erkannte sie Grumbach, der aber scheute sich, den Blick zu heben, ihrem zu begegnen. Vor der Tür wartete ein Zweispanner. Die Pferde trugen Decken gegen die Kälte. Sie schnaubten und ihr Atem sah aus wie der einer kleinen Dampflok. Die sechs Herren trugen den Sarg die Treppe hinauf und kurze Zeit später die Treppe wieder hinab.

Wir müssen gehen, die Menschen warten am Friedhof, sie werden frieren, die Kapelle hat im Krieg nicht nur die Glocke, sondern auch ihren Ofen verloren, sagte der Pfarrer und fragte: Ist Ihre werte Mutter zum Aufbruch bereit?

Erst jetzt horchte Helene auf.

Nein, sagte Martha. Sie wird nicht mitkommen.

Sie wird nicht…? Der Pfarrer sah verständnislos zu Martha, dann zu Helene und zuletzt zum Mariechen, das die Augen niederschlug.

Nein, sagte Helene, sie will nicht.

Sie sagt, sie ist müde, erklärte Martha, ihre Stimme wirkte sonderbar schwach.

Müde? Dem Pfarrer blieb der Mund offen stehen. Helene mochte es, wie weich er das D sprach. Er war nicht aus der Gegend, er kam aus dem Rheinland und hatte die Pfarrei erst seit zwei Jahren. Helene mochte seine Predigten, in seiner Sprache glaubte sie etwas von der großen Welt zu hören, etwas, das weit über die Welt des Gottes, von dem er sprach, hinausschwang.

Martha nahm entschlossen ihren Mantel. Der Pfarrer blieb sitzen, das letzte Geleit, hob er an und verstummte. Weich das G und hart das T. Wo waren seine Worte für fehlenden Gehorsam?

Gehen wir und lassen ihr den Willen, forderte Martha den Pfarrer nun streng auf.

Nein, stammelte der Pfarrer. Wir können doch nicht ohne sie, ohne seine Gattin, ohne Ihre werte Mutter — gehen. Ich werde mit ihr sprechen. Erlauben Sie? Der Pfarrer erhob sich. Er hoffte, dass Martha ihn zur Dame des Hauses führen würde. Aber Martha stellte sich ihm in den Weg.

Es hat keinen Zweck, glauben Sie mir. Martha strich sich zum Aufbruch bereit über das Haar.

Bitte. Der Pfarrer gab nicht nach. Er zeigte deutlich, dass er nicht aufgeben würde.

Wie Sie wollen. Aber Sie sagen selbst, die Menschen am Friedhof warten.

Martha bedeutete dem Mariechen mit einem Nicken, sie möge dem Pfarrer den Weg hinauf ins Gemach der Mutter weisen.

Kommt Leontine? Helene zog ihren Mantel über und bemerkte, wie Martha errötete.

Von oben hörten die Mädchen das Klimpern der Steinchen und Knöpfe in der Zimmerglocke ihrer Mutter. Dann war es ungewohnt still, kein Schreien, kein Poltern. Marthas Erröten zeigte Flecken bis zum Hals, sie sah unglücklich aus.

Was ist? Habt ihr gestritten?

Wie kommst du darauf? Martha war empört. Leise setzte sie hinzu: Leontine ist verhindert.

Der Pfarrer und das Mariechen kamen die Treppe hinunter. Das Mariechen zog sich ihren Mantel über und öffnete die Tür.

Die Mutter wollte nicht, hab ich recht? Helene blickte den Pfarrer forschend an.

Wir wollen sie nicht zwingen. Jeder mag seinen eigenen Weg zu Gott finden.

Sie nicht. Wissen Sie nicht, dass sie Jüdin ist?

Auch die Juden werden eines Tages vor Gott stehen. Der Pfarrer sprach bedächtig und mit einer strengen, ja nicht entrinnbaren Güte, mit weichem D und G und hartem T. Er schien über eine Gewissheit zu verfügen, eine Gewissheit des Glaubens, die Helene Ehrfurcht empfinden ließ.

Für den Leichenschmaus hatte Martha einen Tisch im Keller des Rathauses bestellt. Keiner der schwarzgekleideten Herren sagte ein Wort. Sie schwiegen und tranken. Das Mariechen weinte leise. Und während der Pfarrer in einem fort aus dem Buch Hiob zitierte, wollte Helene sich die Ohren zuhalten, trotz seiner angenehmen Stimme. Helene streckte unter dem Tisch ihren Fuß nach Martha aus, sie berührte sanft Marthas Wade, doch Martha antwortete ihr mit keinem noch so kleinen Zeichen des Erkennens.

Und sehen Sie, Fräulein Martha, Gott nimmt diejenigen zu sich, die ihm die Liebsten sind. Und er gibt Freude und Liebe an all jene, die ihren Weg noch vor sich haben. Schauen wir uns um in unserer Gemeinde. Ist das Fräulein Leontine nicht eine gute Freundin von Ihnen? Sehen Sie, ihre Verlobung ist der Beginn eines neuen Weges, die Wiege ihrer Kinder und ihres Glückes. Der vertraute A-Dur-Akkord vom Petridom erklang, der Glockenschlag schien dem Pfarrer recht zu geben.

Verlobung? Helene war erstaunt. Ging ihre Frage im Geläut der Glocken unter?

Martha weinte jetzt, sie schluchzte hemmungslos.

Fräulein Leontine heiratet nach Berlin, mit einem gewissen Stolz lächelte das Mariechen in die Herrenrunde, vielleicht war es bloß Freude, sie trocknete ihre Tränen und tätschelte Helenes Arm. Vermutlich war sie erleichtert, dass die schwer vermittelbare junge Frau nun doch noch einen Mann bekam. Offenbar war Helene die Einzige am Tisch, die nichts von Leontines Verlobung gewusst hatte.

Wusstest du das? Helene beugte sich vor, in der Hoffnung, dass Martha sie ansehen würde. Doch Martha blickte niemanden an, sie nickte nur, fast unmerklich.

Auch wenn Sie in diesem Augenblick nicht daran denken mögen, Fräulein Martha, auch Sie wird der Vater beschenken. Sie werden heiraten und Söhne gebären. Das Leben, mein gutes Kind, hält so vieles bereit.

So vieles? Martha schnäuzte sich. Verstehen Sie Gott, verstehen Sie, warum er uns leiden lässt?

Der Pfarrer lächelte milde, geradeso als habe er auf diese Frage von Martha gewartet. Der Tod Ihres Vaters ist eine Prüfung. Gott meint es gut mit Ihnen, Martha, das wissen Sie. Es geht nicht um das Verstehen, mein gutes Kind, Bestehen ist alles. Als der Pfarrer seine Hand über den Tisch hinweg ausstreckte, um sie tröstend auf Marthas zu legen, sprang Martha auf.

Sie entschuldigen mich bitte. Ich sollte nach der Mutter sehen. Martha stürzte die Treppe hinauf und verließ den Ratskeller. Helene blieb nichts anderes übrig, sie musste allein am Tisch sitzen bleiben, obwohl sie ahnte, dass Martha nichts als eine passende Ausrede gefunden hatte, um wegzulaufen.