Sie hat ihren Vater sehr geliebt, sagte Grumbach, der in dieser Runde zum ersten Mal das Wort erhob. Die anderen Männer nickten, und in die allgemeine Zustimmung sagte er mit Grimm: Zu sehr.
Gottes Liebe ist groß. Eine Tochter kann ihren Vater nicht zu sehr lieben. Sie kann von Gott nur lernen, das Lieben und Geben. Martha wird diese Prüfung bestehen, daran zweifeln wir keinen Augenblick. Der Pfarrer glaubte an seine Worte und wusste um deren Wirkung. Die Herren nickten.
Beide Kinder haben ihn geliebt, beide. Das Mariechen hörte nicht auf, Helenes Arm zu tätscheln.
Als der Leichenschmaus beendet war, schickte Helene das Mariechen zu ihren Freundinnen, um Garn für neue Spitzen zu besorgen, in Wahrheit aber, damit sie allein in die Tuchmacherstraße zurückkehren konnte. Im Haus war es still. Helene klopfte an die Tür der Mutter, ein Mal, zwei Mal, und da keine Antwort kam, öffnete sie.
Ist Martha hier gewesen?
Die Mutter lag mit offenen Augen im Bett und starrte Helene an. Immerzu sucht ihr einander. Habt ihr nichts Besseres zu tun?
Wir haben Vater beerdigt.
Die Mutter schwieg und so wiederholte Helene ihre Worte: Wir haben den Vater beerdigt.
So.
Helene wartete, in der Hoffnung, der Mutter falle noch ein weiteres Wort oder gar ein ganzer Satz ein.
Was gibts? Warum stehst du so in der Tür? Martha ist nicht hier, das siehst du doch.
Helene lief die Treppe hinunter. Sie trat durch die Hintertür. Reif lag noch auf den schwarzen Bäumen und dem Laub. Es wirkte, als könne der Tag nicht anbrechen, als bliebe es nun ewig Morgen, Novembermorgen am frühen Nachmittag. He lene trat in den Garten, sie stapfte zum Häuschen, das Laub brach unter ihren Füßen. Die Tür war verriegelt.
Bist du da drinnen? Helene klopfte zögernd an die Tür. Von innen hörte sie es rascheln und schließlich öffnete ihr Martha.
Es ist alles gut. Martha strich sich das Haar aus dem Gesicht und strahlte plötzlich.
Ja? Helene sah Marthas glasige Augen, sie wollte nicht belogen werden.
Ja, alles ist gut! Martha atmete tief durch und breitete die Arme aus. Helene umschlang Marthas Hüften. Nicht so stürmisch, meine Kleine! Martha lachte auf. Vergiss nicht, wir sind im Freien, alle können uns sehen!
Du bist schrecklich, Martha. Helene lächelte, sie schämte sich, sie hatte an nichts anderes als an Trost gedacht. Sie wollte Martha trösten, sie wollte alles über Leontine und Martha wissen und hatte sich doch fest vorgenommen, keine Fragen zu stellen.
Gehen wir hinauf? Martha blickte Helene lüstern an.
Helene konnte nicht nein sagen, aber sie sagte: Ich wollte dich nur trösten.
Ja, tröste mich! Martha atmete wieder tief und hörbar ein und aus. Unter dem dicken Mantel trug Martha ihr neues schwarzes Kleid mit dem hohen Kragen, Mariechen hatte es eigens für die Beerdigung genäht. Das Schwarz stand in einem reizvollen Gegensatz zu Marthas weißer Haut. Ihre Wangen und ihre große, feine Nase waren von der Kälte gerötet. Die glasigen Augen wirkten heller als sonst. Tröste mich!
Helene wollte nach Marthas Hand greifen, aber Martha zog ihre Hand fort. Sie hielt etwas in dieser Hand, das sie jetzt in der Manteltasche verschwinden ließ.
Die Schwestern gingen die Treppe hinauf und verschlossen ihre Zimmertür. Sie ließen sich auf das gemeinsame Bett fallen und entkleideten sich. Helene erwiderte Marthas Küsse, sie empfing jeden von ihnen, als gelte er allein ihr und dächten sie nicht beide an Leontine.
Meine Brüste wachsen nicht mehr, flüsterte Helene später in das blaue Licht der Dämmerung.
Das macht nichts, sagte Martha, sie werden schöner. Ist das nichts?
Helene biss sich auf die Zunge. Martha hätte sagen können, dass sich Helene noch ein, zwei Jahre gedulden sollte, schließlich gab die Zeit einigen Anlass für solche Hoffnungen, aber an ihrer freundlichen Antwort las Helene ab, wie schwer ihr an diesem Tag die Aufmerksamkeit für die Schwester fiel. Dabei dachte auch Helene vor allem an Leontine und deren Verlobung nach Berlin. Vielleicht hatte Leontine Martha einen Brief geschrieben und den hatte Martha im Häuschen heimlich gelesen und in ihrer Manteltasche verschwinden lassen, ehe sie Helenes Hand ergreifen konnte. Ein Abschiedsbrief, einer, der Martha erklären sollte, woher dieser Verlobte plötzlich kam und warum sie entgegen bisherigen Versprechen doch fortgehen würde. Helene fragte sich, was nun aus Martha werden konnte. Doch Martha wollte offenbar nicht über Leontine sprechen.
Ich habe Durst, sagte Martha.
Helene stand auf. Sie nahm den Wasserkrug vom Waschtisch, goss etwas in einen Becher und reichte ihn Martha.
Leg dich auf mich, Engelchen, komm.
Helene schüttelte den Kopf, sie setzte sich an den Bettrand und streichelte Marthas Arm.
Bitte.
Helene schüttelte wieder den Kopf.
Dann geh ich hinunter. Ich glaube, ich hab das Mariechen vorhin gehört. Ich werde ihr beim Abendbrot helfen. Martha stand auf, befestigte ihre wollenen Strümpfe und zog ihr schwarzes Kleid an.
Kaum war Martha aus der Tür und waren ihre Schritte auf der Treppe verklungen, streckte Helene ihren Arm aus, sie hob den am Boden liegenden Mantel auf. Helene fand keinen Brief und keinen Zettel in der Manteltasche, sondern ein Taschentuch und darin eine Spritze. Eine Erinnerung an den Vater? Helenes Gedanken fielen übereinander. Warum sollte Martha die Spritze des Vaters heimlich verschwinden lassen, auf dem Taschentuch entdeckte Helene kleine Blutflecken, sie wickelte die Spritze hastig in das Taschentuch zurück, es öffnete sich wieder, Helene rollte es, wickelte es und stopfte das kleine Bündel dorthin zurück, woher sie es genommen hatte, warum in ihrer Manteltasche, warum mit ihr im Häuschen, mit der Spritze, und nicht mit einem Brief von Leontine?
Kein schönerer Augenblick als dieser
Im Winter nach dem Tod des Vaters fror die Spree vom Ufer her zu, bis im Januar die Eisschollen so dicht saßen, dass es eine Mutprobe für die Jungen der Stadt war, auf ihnen den Fluss zu überqueren. Für Helene galt das Schauspiel als Hinweis auf die Wahrheit der Bibel. Konnte nicht auch in der Wüste das Wasser gefrieren und war es nichts als ein zeitlicher Hinweis, wann es war, dass Jesus über das Wasser ging? Aus den Schornsteinen quoll in der Frühe Rauch, seine Schwaden hüllten die auf dem Granitfelsen liegende Stadt ein. Nur die Spitze des Lauenturms, der Petridom und der schiefe Reichenturm ragten in den Morgenstunden aus dem weithin sichtbaren Bautzener Nebel. Selbst die hohen Mauern der Ortenburg und die Alte Wasserkunst waren in Dunst getaucht. In den meisten Häusern ging das Brennholz Ende Januar aus, und wo das Geld fehlte und die Lieferung von Kohle auf sich warten ließ, zerhackten die Menschen kleinere Möbelstücke, Schemel und Bänke, Gartenmöbel, solche, die ihnen mitten im Winter unnütz erschienen. Martha und Helene sahen, wie ihre Barschaften schwanden. Kaum konnten sie einen Kalender oder eine Ansichtskarte verkaufen, wollte das eingenommene Geld umgehend ausgegeben werden. Nie war das Brot so teuer wie morgen. Sie wollten einen Pächter für die Druckerei finden, doch alles Werben und Suchen war vergeblich. Die Fabriken unten am Fluss entließen ihre Arbeiter, wer konnte, floh nach Breslau, Dresden oder Leipzig; jede größere Stadt versprach bessere Möglichkeiten, an Essbares und eine beheizte Bleibe zu gelangen.
Helene räumte die Lagerräume und die Regale im Werkraum auf. Auf den oberen Brettern lag dicker Staub und eine Vielzahl kleinerer Druckvorlagen, die niemand mehr benötigen würde. In den unteren Fächern hatte Helene in den vergangenen Jahren Papiere gestapelt, aber vieles davon war in den letzten Wochen in die Öfen gewandert. Ein kurzes Brennen war besser als gar keins. Sicherlich würden die langen Bretter des hohen Regals gut heizen. Man musste ja nicht gleich das ganze Regal auseinandernehmen. Nur das Holz der oberen beiden Fächer wollte Helene verwenden. Die Bretter waren fest in den Stütz pfosten verankert. Das Regal streckte sich an der Längswand vom Boden bis zur Decke und von der hinteren Ecke bis nach vorne zur Tür und darüber hinweg. Es würde noch groß genug sein, wenn die obersten Bretter fehlten. Mit einem Hammer in der Hand stieg Helene auf die Leiter. Eine Pappe war hinter das Regal gerutscht und klemmte dort zwischen einem Brett, der Wand und dem Pfosten. Helene beugte sich vor, hielt sich mit einer Hand an dem Regal fest und wollte die Pappe herausziehen. Mit dem Hammer wollte sie sodann das oberste Brett aus seiner Verankerung schlagen. Die Pappe klemmte fest. Helene tastete an der Wand entlang und versuchte, die eine Ecke der Pappe hinter dem Pfosten zu lösen, als sie etwas Bewegliches, Metallisches spürte. An der Rückseite des äußeren Stützpfos tens ertastete sie den Gegenstand, sie löste ihn und fand in ihrer Hand einen Schlüssel. Er hatte etwas Rost angesetzt, aber Helene wusste sofort, um welchen Schlüssel es sich handelte. Seine Form und seine ungewöhnliche Verzierung am Kopf waren ihr vertraut. Selbst sein Gewicht kam ihr bekannt vor — dabei hatte sie ihn nie zuvor in der Hand gehalten. Ein wenig kleiner wirkte er, als wäre er geschrumpft. Helene erinnerte sich gut, wie vor dem Krieg zum Feierabend der Vater die Kasse geleert hatte, den Schlüssel in der Hand, und mit den Händen voller Geld in den hinteren Raum gegangen war, wo er die Tür zum großen Schrank öffnete. Obwohl Helene sich schon beim Öffnen der Kasse zur Tür wandte, zwinkerte er ihr jeden Abend mit dem später fehlenden Auge zu und sagte: Hältst du an der Tür Wache? Und wenn jemand kommt, dann pfeifst du. Manchmal sagte Helene: Mädchen sollen nicht pfeifen. Dann fragte er lächelnd zurück: Ja, bist du denn ein Mädchen? Und einmal sang er hinter der geöffneten Schranktür hervor jenen Vers, den er ihr schon ins Album geschrieben hatte: Sei wie das Veilchen im Moose, sittsam, bescheiden und rein, nicht wie die stolze Rose, die immer bewundert will sein. Dann veränderte er seinen Tonfall, drohend, fast beschwörend flüsterte er: Aber jedes Mädchen muss pfeifen können, merk dir das.