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Eines Abends, als Peters Mutter im Krankenhaus arbeiten gewesen war, hatte er unter ihrem Kopfkissen nachgesehen. Er hatte sich vergewissern wollen. Der Brief war verschwunden. Mit einem spitzen Messer hatte Peter den Sekretär der Mutter geöffnet, aber dort nur Papier und Umschläge und einige Marken gefunden, die sie in einer kleinen Schachtel aufbewahrte. Peter hatte den Kleiderschrank seiner Mutter durchsucht, er hatte ihre geplätteten, ordentlich gefalteten Schürzen und ihre Unterwäsche angehoben. Zwei Briefe lagen da, von ihrer Schwester Elsa, die Briefe kamen aus Bautzen. Elsa hatte eine so krakelige Schrift, dass Peter nur die Anrede lesen konnte: Meine kleine Alice. Keinen einzigen Brief des Vaters hatte Peter mehr finden können.

Als Peter an diesem Morgen in den Milchladen trat, waren der Lehrer Fuchs und seine Schwester fort. Die Kinder warteten vergeblich, sie sahen den anderen Menschen zu, die in den Milchladen kamen, erst zögerlich, dann stürmisch, und alle Schränke öffneten. Kisten, Zuber und Kannen wurden untersucht. Die Leute schimpften und fluchten, kein Tropfen saure Sahne, kein einziges Stück Butter war mehr da. Eine ältere Frau trat gegen den Schrank, so dass eine Tür herausbrach.

Kaum hatte der letzte Erwachsene den Laden verlassen, kniete sich der älteste Junge auf den Boden, geschickt hob er eine der Fliesen an, und darunter befand sich ein kühles Versteck. Ein Junge pfiff, und die Mädchen nickten voller Anerkennung. Aber das Versteck war leer. Was immer darin gelegen haben mochte, Butter oder Geld, es war nicht mehr da. Als der Junge aufblickte und sein abschätziger Blick ausgerechnet auf Peter fiel, fragte er ihn, warum er sich denn so rausgeputzt habe. Peter sah an sich hinunter, auf sein Feiertagshemd, erst jetzt erinnerte er sich, dass er zeitig nach Hause kommen sollte. Wir verschwinden, das hatte seine Mutter zuletzt gesagt.

Schon im Treppenhaus hörte Peter ihre Töpfe klappern. In der letzten Woche hatte seine Mutter Nachtschicht gehabt. Seit Tagen machte sie die Wohnung sauber, als wäre die je schmutzig gewesen, sie bohnerte Böden, wischte Stühle und Schränke ab und putzte Fenster. Die Wohnungstür war nur angelehnt, Peter öffnete sie. Er sah drei Männer um den Küchentisch, darauf seine Mutter, sie saß halb, halb lag sie. Der nackte Po eines Mannes bewegte sich auf Peters Augenhöhe vor und zurück, dabei wackelte das Fleisch so heftig, dass Peter lachen wollte. Doch die Soldaten hielten seine Mutter fest. Ihr Rock war zerrissen, ihre Augen weit geöffnet, Peter wusste nicht, ob sie ihn sah oder durch ihn hindurch blickte. Aufgesperrt war ihr Mund — aber sie blieb stumm. Einer der Soldaten bemerkte Peter, er hielt sich den Hosenbund zu und wollte Peter aus der Tür schieben. Peter rief nach seiner Mutter, Mutter, rief er, Mutter. Der Soldat trat ihm kräftig gegen die Beine, so dass Peter vor der Tür zusammenknickte, ein Fuß traf ihn in den Po, dann wurde die Tür zugedrückt.

Peter saß auf der Treppe und wartete, er hörte Frau Kozinska singen. Es saß ein klein wild Vögelein auf einem grünen Ästchen. Es sang die ganze Winternacht, sein Stimm tät laut erklingen. Doch es war Sommer, und Peter hatte Durst, und die Züge würden gleich fahren, er wollte mit seiner Mutter verschwinden. Peter presste die Lippen aufeinander. Sein Blick fiel auf die Tür mit der Öffnung, wo sich einst das Schloss befunden hatte. Auf dem Boden lagen noch Späne. Peter zog mit den Zähnen dünne Haut von den Lippen. Schon einmal zuvor hatte seine Mutter Besuch von Soldaten gehabt, das war nur wenige Tage her, sie mussten die Tür aufgetreten und dabei das Schloss herausgebrochen haben. Sie waren den ganzen Tag geblieben, sie hatten getrunken und gejohlt. Peter hatte immer wieder gegen die Tür gehämmert. Jemand musste innen etwas gegen die Tür gestellt haben, vielleicht hatte ein Stuhl unter der Klinke gestanden. Peter hatte durch die Öffnung gespäht, die das herausgebrochene Schloss hinterlassen hatte, der Rauch hatte so dicht gestanden, dass Peter nichts hatte erkennen können. Also hatte sich Peter auf die Treppe gesetzt und gewartet wie jetzt. Die Zähne konnte man nicht schleifen. Peter kaute vorsichtig auf einem Fetzen abgenagter Haut. Während er sich auf die Lippen biss, rieben beide Zeigefinger an den Daumen. Obwohl ihm seine Mutter die Nägel so kurz wie möglich schnitt, gelang es ihm immer wieder, mit dem Zeigefinger Haut vom Daumen zu lösen, dort, wo der Nagel in seinem Bett lag.

Als beim letzten Mal endlich die Tür aufgegangen war, waren die Soldaten einer nach dem anderen ins Treppenhaus gestolpert, die Stufen hinabgestiegen und hatten gegen Frau Kozinskas Tür geklopft. Der letzte hatte sich umgedreht und Peter auf deutsch etwas hinaufgerufen: Einen wie dich habe ich auch zu Hause. Pass bloß auf deine Mutter auf, dabei hatte der Soldat lachend den Zeigefinger gehoben. Als Peter in die verrauchte Küche getreten war, hatte er gesehen, wie sich seine Mutter in einer Ecke der Küche bückte, sie strich ein Laken glatt. Du bist jetzt ein großer Junge, hatte sie gesagt, ohne Peter anzusehen, du kannst nicht mehr in meinem Bett schlafen.

Sie hatte ihn nicht angesehen, nicht wie heute, nie zuvor hatte er einen solchen Ausdruck in den Augen seiner Mutter gesehen wie eben, eisig.

Das Warten vor der Tür fiel Peter schwer, er stellte sich hin, er setzte sich auf die Treppe und stand wieder auf. Durch den Spalt, den das herausgebrochene Schloss hinterlassen hatte, wollte Peter etwas erkennen. Auf der letzten Stufe stellte er sich auf Zehenspitzen und beugte sich vor. So konnte er leicht das Gleichgewicht verlieren. Peter wurde ungeduldig, ihm knurrte der Magen. Immer, wenn Peters Mutter Nachtschicht hatte, kam sie morgens nach Hause, weckte ihn zur Schule und mittags wartete sie mit einem Essen. Sie kochte eine Suppe aus Wasser, Salz und Fischköpfen. Nahm sie später die Fischköpfe heraus, streute sie etwas Sauerampfer in die Suppe. Sie sagte, die sei gesund und nahrhaft, nur selten hatte sie etwas Mehl bekommen und es zu kleinen Klößchen geformt in der Suppe gekocht. Kartoffeln gab es nach dem letzten Winter nicht mehr. Es gab kein Fleisch, keine Linsen, keinen Kohl. Nicht einmal im Krankenhaus hatten sie etwas anderes als Fisch, um es den Kindern zu geben. Peters Blick hing wie beim letzten Mal an der verschlossenen Tür und dem Spalt, den das Schloss hinterlassen hatte. Er setzte sich auf die oberste Stufe. Ihm fiel ein, dass die Mutter ihn nach dem letzten Mal gebeten hatte, ein neues zu besorgen. Überall gab es Schlösser, in jedem Haus, in jeder gottverlassenen Wohnung. Aber Peter hatte es vergessen.

Jetzt kaute Peter auch an der aufgerauten Haut am Rande des Daumennagels, man konnte die Haut in länglichen dünnen Streifen abziehen. Seine Mutter hätte abschließen können, hätte er nicht das Schloss vergessen. Peters Blick wanderte über den verkohlten Türrahmen in die verlassene Wohnung der Nachbarn. Überall sah man die Spuren des Brandes, die Wände, Decken und Böden waren schwarz. Dabei hatten seine Mutter und er Glück gehabt, nur die Wohnung über ihnen war ausgebrannt und die der alten Nachbarn nebenan.

Plötzlich sprang die Tür auf, zwei Soldaten kamen heraus. Sie klopften sich auf die Schulter, sie waren guter Laune. Peter überlegte, ob er in die Wohnung gehen konnte, vorhin hatte er drei gezählt. Einer der Männer musste noch drinnen sein. Leise stand Peter auf, er ging zur Wohnungstür und stieß sie einen Spalt weit auf. Er hörte ein Schluchzen. Die Küche wirkte verlassen. Diesmal hatte keiner der Soldaten geraucht, alles schien noch so sauber und behaglich wie am Morgen. Auf dem Küchenschrank lag der Putzlappen seiner Mutter. Peter drehte sich um und entdeckte hinter der Tür den nackten Soldaten. Mit angewinkelten Beinen, den Kopf in die Hände gestützt, saß der Mann am Boden und schluchzte. Peter fand den Anblick seltsam, weil der Soldat einen Helm trug, obwohl er doch sonst ganz nackt war und der Krieg schon seit Wochen beendet sein sollte.

Peter ließ den Soldaten hinter der Tür sitzen und trat ins Nebenzimmer, wo seine Mutter gerade den Kleiderschrank schloss. Sie trug ihren Mantel und nahm den kleinen Koffer vom Bett. Peter wollte ihr sagen, es tue ihm leid, dass er das Schloss vergessen hatte, dass er ihr nicht hatte helfen können, aber er brachte nur ein Wort über die Lippen, und das war Mutter. Er griff nach ihrer Hand. Sie machte sich los und ging voran.