Helene wusste, dass sich in der Rückwand des Schrankes die Tür zum Tresor befand. In den Jahren der Abwesenheit des Vaters fand sich der Schlüssel nicht, und nach seiner Rückkehr hatte die Gelegenheit gefehlt, ihn nach dem Schlüssel zu fragen. Helene liebte ihren Vater, wenn er ihr über das Haar strich und ihren Kopf an sich zog wie den seines großen Hundes, wollte sie die gefundene Geborgenheit um keinen Preis mehr verlassen, sie verharrte still, bis der Vater sie mit einem freundlichen Klaps hinauf in die Küche oder auf die Straße schickte. Trotzdem der Spruch vom Veilchen Helene nicht gefiel. Sie mochte den süßen Duft von Veilchen und auch ihr zartes Äußeres, aber mindes tens ebenso gefiel ihr der aufrechte Wuchs von Rosen, die Stacheln, mit denen sie sich schützten, ihre leuchtenden Farben, das aufbrechende Rosa, ein Gelb wie das späte Sonnenlicht im Oktober, und besonders liebte Helene das Lied von Maria, die durch den Dornwald ging. Leontine hatte es ihnen beigebracht, ehe sie nach Berlin gegangen war. Erwiesen die Dornen Maria nicht alle erdenkbare Ehrfurcht, ja Hingabe, indem sie blühten? Alles an der Rose erschien Helene wenn nicht beneidens-, so zumindest bewundernswert. Nur aus Achtung für ihren Vater versuchte sie, dem Gleichnis der Blumen mit Mädchen etwas abzugewinnen, doch es blieb bei dem Versuch. Im Garten vor dem Haus hegte Helene seit dem vergangenen Jahr Rosen, keine Veilchen. Sie züchtete die Rosen nicht, sie hegte Wildlinge, die sie am Hang des Schafberges gefunden und ausgegraben hatte.
Als Helene nun gemeinsam mit Martha zum ersten Mal den Tresor öffnete, fanden sie alte Geldscheine in mehreren Stapeln geordnet, die zusammengerechnet gut zweitausend Mark ergaben und Martha und Helene lächeln ließen. Was hatte man damit wohl vor Jahren kaufen können? Ein ganzes Brot vielleicht, vielleicht ein halbes. Wenigstens ein halbes Pfund. Zweitausend Brote, behauptete Martha. Sie entdeckten ein ledernes Adressbuch, dessen Schnitt golden angemalt war, und eine Mappe mit ungeordneten Lithographien verschiedenster Größe und dem Druckbild nach unterschiedlicher Herkunft. Auf den Lithographien waren nackte Frauen zu sehen. Füllige Frauen, solche, die ihnen selbst und ihrer Mutter sehr unähnlich waren. Frauen in Strümpfen und Frauen mit Schleiern und Korsagen, aber auch Frauen, die einfach gar nichts auf dem Leib trugen.
Gemeinsam machten sich die Schwestern daran, die Namen und Adressen aus dem ledernen Buch auf Briefumschläge zu schreiben. In jeden Umschlag steckten sie eine Todesanzeige. Unter S lasen sie den Namen einer Tante, von der sie noch nie etwas gehört hatten. Dort stand: Fanny Steinitz. Hinter dem Namen hatte der Vater mit der feinen Handschrift eines leidenschaftlichen Buchhalters in Klammern Selmas Base, Tochter des verstorbenen Bruders von Hugo Steinitz aus Gleiwitz vermerkt. Die Adresse lautete Achenbachstraße 21, W 50, in Berlin-Wilmersdorf.
Noch ehe Helene in der folgenden Woche einen Augenblick geistiger Klarheit bei ihrer Mutter abwarten und nutzen konnte, um sie auf ihre in Berlin lebende Cousine anzusprechen, verfasste Helene eigenmächtig einen kurzen Brief. Geehrte Tante, so begann sie den Brief, leider wenden wir uns heute mit einer traurigen Nachricht an Sie, denn unser Vater, der Gatte Ihrer Base Selma Würsich, ist am elften November vergangenen Jahres an den Folgen seiner Kriegsverletzungen gestorben. Unsere Traueranzeige finden Sie anbei. Helene überlegte, ob und in welcher Weise sie sich zum Zustand der Mutter äußern, ihn erklären sollte. Schließlich würde sich die Base wundern, dass sie den Brief von ihren Nichten und nicht von ihrer Base erhielt. Gewiss würde Ihnen unsere Mutter die besten Wünsche senden, doch leider erfreut sie sich in den vergangenen Jahren keiner prächtigen Gesundheit. Mit herzlichen Grüßen, Ihre Nichten Martha und Helene Würsich.
Helene fragte sich, ob die Tante wohl noch unter jener Adresse wohnte. Musste sie nicht im Laufe der Jahre einmal geheiratet haben und heute einen anderen Namen tragen? Natürlich mochte die Tante staunen, weshalb man nach so vielen Jahren einen Kontakt aufnahm — zumal etwas vorgefallen sein musste, das zu dem Verschweigen jener mütterlichen Base aus den erzählten Geschichten der Familie geführt hatte. Doch Helenes Wunsch, diesen Brief zu schreiben, ihre Neugier und die Hoffnung auf eine Antwort aus Berlin ließen sie schnell alle Bedenken beiseite schieben.
Es wurde Ostern, ehe der Postbote einen selten schmalen, gefalteten Umschlag brachte, auf dem ihr Name stand: Fräulein Helene Würsich. Die Tante schrieb mit einer schwungvollen, beinahe auf dem rechten Rücken liegenden Schrift, die obere Schleife ihres Hs lag sanft auf dem feingestrichelten e. Das sei ja eine ungeheure Überraschung! Nach diesem Ausruf ließ die Tante zwei Zeilen frei. Schon lange habe sie nichts von ihrer verrückten Cousine gehört. Es freue sie aufrichtig, dass es mit den Jahren offenbar zwei Kinder gebe, denn ihr Kontakt sei nach der Geburt des ersten Kindes, Martha, abgerissen. Sie habe sich schon gefragt, ob ihre Cousine wegen früherer Streitigkeiten den Kontakt verweigere oder gar im Kindbettfieber gestorben sei. Im Postskriptum fragte Tante Fanny ihre Nichten, ob deren Mutter ernstlich erkrankt sei.
Ein Briefwechsel begann. Über die Mutter sei wenig zu berichten, da es ihr seit Jahren nicht gut gehe und wohl kein Arzt ihr helfen könne. Helene überlegte mit Martha, wie sie den Zustand ihrer Mutter beschreiben konnten. Eine schlechte Verfassung sagte wenig, zumal der Mutter organisch nichts fehlte. Ihnen fiel die Mittagsfrau ein, von der das Mariechen von Zeit zu Zeit sprach. Mit einem merkwürdigen Lächeln bemerkte das Mariechen dann, ihre Dame, wie sie die Mutter nannte, weigere sich einfach, mit der Mittagsfrau zu sprechen. Da könne man nichts machen, sagte das Mariechen und zuckte die Schultern. Dabei müsse die Dame nichts weiter tun, als der Mittagsfrau eine volle Stunde lang von der Verarbeitung des Flachses zu erzählen, nichts sonst. Das Mariechen blinzelte. Nur ein wenig Wissen weitergeben. Martha und Helene kannten die Geschichte von der Mittagsfrau, solange sie denken konnten, es lag etwas Tröstliches in ihr, weil sie nahelegte, dass es sich bei der mütterlichen Verwirrung um nichts anderes als einen leicht zu verscheuchenden Fluch handelte. Da kann man nichts machen, sagte das Mariechen dann wieder und zuckte mit den Achseln, ihr Lächeln verriet, dass sie sich ihrer Mittagsfrau sicher war und nur ein winziges Mitleid für ihre ungläubige Dame empfand. Andererseits gehörte ihr ihre Dame auf diese Weise, unentrinnbar, ihr und ihrem Glauben. Doch Martha und Helene unterließen es, der Berliner Tante von der Mittagsfrau zu schreiben, sie wollten vermeiden, dass die Tante sie mit jenem ländlichem Volksglauben in Verbindung sah und ihnen Einfalt unterstellte. Also beließen sie es bei einer sachlichen Schilderung: ein unerklärliches Leiden, eine Seelenqual, deren Ursache schwer bestimmbar und deren Behandlung wohl unmöglich sei.