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Ach, das würde sie nicht verwundern, schrieb Tante Fanny zurück, solche Leiden lägen in der Familie, und sie erkundigte sich, wer denn jetzt für die Mädchen sorge.

Sie sorgten selbst für sich, sagte Martha stolz und bat Helene, das zu schreiben. Alle beide. Helene sollte der Tante nur berichten, dass sie nach gerade zwei Jahren im September als jüngste Schwesternschülerin ihre Prüfung bestehen werde. Schon jetzt helfe sie in der Wäscherei des Krankenhauses und verdiene dabei etwas, so dass ihrer beider Einkommen für ihren bescheidenen Lebensunterhalt langten. Die Reste des elter lichen Vermögens konnten bislang die Mutter, das Haus und das treue Mariechen unterhalten, gerade so.

Helene zögerte. Wäre es nicht besser, von einem spärlichen Vermögen zu schreiben?

Warum? Ein Vermögen kann nicht spärlich sein. Es war beträchtlich, Engelchen.

Aber jetzt ist alles weg.

Muss sie das erfahren? Wir sind doch keine Bettler.

Helene wollte Martha nicht widersprechen. In Marthas Stolz lag eine Unbezwingbarkeit, die Helene gefiel. Helene schrieb weiter. Die Druckerei haben wir nicht verpachten, wohl aber einige der Maschinen verkaufen können. Auch die Monopol müssen wir nun verkaufen, da die im Wert zerfallenden Barschaften sich ihrem Ende neigen und von der Breslauer Erbschaft keine Nachricht kommt. Ob Tante Fanny etwas von dem verstorbenen Onkel wisse, dem Hutmacher Herbert Steinitz mit seinem großen Salon, den er zuletzt in Breslau am Ring geführt haben soll.

So was, der Hutmacher, schrieb Tante Fanny zurück. Der betuchte Onkel mochte nur einen Menschen auf der Welt, das sei ihre sonderbare Cousine Selma gewesen. Gewiss habe er alles allein ihr vermacht. Aber die Bekanntschaft zu diesem Onkel habe sie selbst wahrlich nie gepflegt. Vielleicht sollte sich das nachträglich ändern lassen? Immerhin, das Ansehen des Onkels beziehe sich ausschließlich auf sein Vermögen. Sie könne ihre Brüder nach ihm fragen, von denen einer noch in Gleiwitz, der andere in Breslau lebe.

Es sollte Herbst werden, ehe Martha und Helene die Erbschaft für ihre Mutter erhielten. Es waren dies ständige Mieteinnahmen aus einem Wohn- und Geschäftshaus, das der Onkel in Breslau hatte bauen lassen, als auch einige Wertpapiere, die kaum noch einen Wert besaßen, und schließlich ein großer, nagelneuer Schrankkoffer, der an einem der ersten kühlen Tage Ende September von einem Fuhrwerk gebracht wurde.

Der Fuhrmann erklärte, der Schrankkoffer sei so leicht, dass er ihn gern allein die Treppe hinauftragen könne.

Es war ein Glück, dass die Mutter in ihrem Schlafgemach das Eintreffen des Koffers nicht bemerkte. So warteten Martha und Helene, bis sich das Mariechen am Abend in seine Kammer zurückgezogen hatte. Mit einem Messer und einem Hammer brachen sie die Plomben und Siegel auf. Ein Duft von Thymian und südländischem Nadelholz schlug ihnen entgegen. Im Koffer befanden sich zwischen Seidenpapier und einer Vielzahl ausgefallener Hüte, die aufwendig mit Federn und Steinen verziert waren, eckige Holzklötzchen, die einen harzigen Geruch ausströmten und zwar glatt geschliffen waren, aber an den Seiten klebten. Auf jeden Hut kam eines der flachen Säckchen aus gelbem Hanf, gefüllt mit getrockneten Kräutern, die wohl Motten abhalten sollten. Unter den Hüten waren zwei merkwürdige, kleine, runde Hüte, die wie Töpfe aussahen und sich eng an die Köpfe von Helene und Martha schmiegten. Am Boden des Koffers lag, eingeschlagen in schweren moosgrünen Samt, eine Menora und ein sonderbarer Fisch. Der Fisch bestand aus zwei verschiedenfarbigen Hörnern, die mit Schnitzereien verziert und kunstvoll zusammengesetzt waren. Seine Augenhöh len, Intarsien aus hellem Horn in dunklem, mochten einst Edelsteine geborgen haben, zumindest glaubte Martha das. In seinem Inneren, dem hohlen Hornleib, fand Helene einen zusammengerollten Zettel. Testament. Ich vermache alles meiner geliebten Nichte Selma Steinitz, geehelichte Würsich in Bautzen. Unterzeichnet war dieser Wille vom Onkel Herbert. Tiefer im Bauch des Fisches versteckte sich eine dünne goldene Halskette mit winzigen durchsichtigen Steinen von bläulichem Rot. Rubine, vermutete Martha. Helene wunderte sich, woher Martha eine Kenntnis von Edelsteinen besitzen wollte. Unwillkürlich ließ Helene die Steine durch ihre Hand gleiten und zählte sie, zweiundzwanzig.

Wir verwahren den Fisch hier in der Vitrine, sagte Martha, sie nahm Helene den Fisch aus den Händen und schloss die Vitrine auf. Sie legte den Fisch in eines der unteren Fächer, die von außen nicht einsehbar waren. Es geschah im stillen Einvernehmen, dass Helene und Martha ihre Mutter nicht fragten, was mit diesem Fisch geschehen sollte. Das Wort Verwahren kennzeichnete möglicherweise einen Zeitraum, der der Lebenszeit der Mutter entsprechen sollte. Sie erzählten ihr nichts vom Fisch, und die beiden modernen Topfhüte ließen sie in ihrem Kleiderschrank verschwinden.

Als Martha eines Morgens mit Helenes Hilfe den Schrankkoffer mit den anderen Hüten, dem Testament und der Menora zur Mutter ins abgedunkelte Schlafgemach erst schob und dann trug, mit vorsichtigen Schritten, von Lichtung zu Lichtung, weil der Boden im Zimmer keinen freien Weg mehr für den großen Koffer ließ, blickte die Mutter erschrocken auf. Wie ein scheues Tier verfolgte die Mutter die Bewegungen ihrer Töchter. Sie trugen den Koffer über einen Haufen Stoffe und Kleider, über zwei Tischlein voller Vasen und Ästchen, Kästchen und Steine, und unzähliger auf den ersten Blick nicht erkennbarer Gegenstände hinweg, stemmten ihn in die Höhe und ließen ihn schließlich am Fußende auf das Bett der Mutter fallen. Martha öffnete den Koffer.

Von dem Onkel aus Breslau, dem Hutmacher, sagte sie und hielt zwei große, mit Strass, Steinen und Perlen reichbesetzte Hüte in die Höhe.

Onkel Herbert, Breslau, bekräftigte Helene.

Die Mutter nickte so eifrig und schaute gehetzt zur Tür, zum Fenster und zurück zu Helene, dass die Mädchen nicht wussten, ob die Mutter sie verstanden hatte.

Nicht die Vorhänge öffnen, herrschte die Mutter Helene an. Sie schnaubte verächtlich, als Helene die Menora auf das Fens terbrett neben den kleineren Leuchter der Mutter stellte. Die Menora der Mutter hatte zum letzten Mal am Tag des Todes ihres Mannes gebrannt, die Mutter hatte nur sechs Lichter angezündet und auf Helenes Frage, warum die Mutter ausgerechnet die mittlere Kerze weggelassen hätte, hatte die Mutter tonlos geflüstert, es gebe kein Hier mehr, ob das dem Kind nicht aufgefallen sei. Helene öffnete das Fenster, als sie plötzlich ein Kichern hinter sich hörte. Die Mutter schnappte nach Luft, etwas musste ihr ungemein komisch erscheinen.

Mutter? Helene versuchte es zuerst mit der Anrede, schließlich gab es Tage, an denen eine Frage völlig umsonst gestellt wurde. Die Mutter kicherte. Mutter?

Plötzlich verstummte die Mutter. Wer sonst? Fragte sie und das Kichern brach wieder aus.

Martha, die schon die Treppe hinunterging, rief nach Helene. Doch als Helene an die Tür gelangte, hob die Mutter von neuem an.