Glaubst du, ich wüsste nicht, warum du das Fenster öffnest? Wann immer du mein Zimmer betrittst, öffnest du es, ungefragt.
Ich wollte einfach…
Du denkst nicht nach, Kind. Du meinst wohl, in meinem Zimmer stinkt es? Ja, ist es das, was du mir zeigen möchtest? Ich stinke? Soll ich dir etwas verraten, Dummerchen? Das Alter kommt, es wird auch über dich kommen, und es macht die Wesen faulen. Ja, schau nur genau hin, so wirst auch du eines Tages faulen. Buhh! Die Mutter sprang in ihrem Bett auf und drohte, auf den Knien schaukelnd, kopfüber vom Bett zu kippen. Dabei lachte sie, das Lachen rollte ihr aus der Kehle, dass es Helene weh tat. Ich verrate dir ein Geheimnis: Wenn du nicht das Zimmer betrittst, dann stinkt es auch nicht. Ganz einfach, ha! Die Mutter lachte nun nicht mehr böse, sondern unbekümmert, erleichtert. Helene blieb unschlüssig stehen. Sie versuchte, über den Sinn der Worte nachzudenken. Was ist? Troll dich, oder möchtest du mich stinken lassen, du Unbarmherzige?
Helene ging.
Und schließ die Tür hinter dir! Hörte sie die Mutter in ihrem Rücken rufen.
Helene schloss die Tür. Sie legte ihre Hand auf das Geländer, als sie die Treppe hinunterging. Wie vertraut ihr das Geländer erschien, fast empfand sie ein Glück, dass dieses Geländer sie so sicher nach unten führte.
Unten fand Helene Martha im Sessel des Vaters sitzen. Sie half dem Mariechen beim Stopfen der Bettwäsche.
Für die vermittelnde Tätigkeit dankten Helene und Martha ihrer Tante Fanny in einem langen Brief voll ausführlichster Wetterbeschreibungen und Schilderungen des kleinstädtischen und alltäglichen Lebens. Sie schrieben ihr, dass sie im Garten hinter dem Haus eine zweite Aussaat von Wintersalaten gemacht hätten, erst am folgenden Tage seien die Kohlsorten zum Überwintern an der Reihe. Niemand würde verlangen, dass man sich in Zeiten wie diesen um einen Blumengarten kümmerte, doch ihnen sei es eine wahre Herzensangelegenheit. Wiewohl sich der Wasserzins erschreckend erhöhe, sei es ihnen über den Sommer gelungen, das Beet vor dem Haus nicht verdorren zu lassen. Der Spätsommer erfordere viel Arbeit im Freien. Nun habe Helene schon alle Rosenblätter abgeschnitten und verbrannt. Eine Kupferbrühe sei angerührt, mit der man gegen Rost, und eine Schwefelkalkbrühe, mit der man gegen Mehltau spritzen wolle. Die Astern blühten prächtig. Unsicher sei man nur mit den Blumenzwiebeln. Das Mariechen empfehle, die Zwiebeln von Scilla und Narzissen, von Tulpen und Hyazinthen jetzt zu pflanzen. Aber im vergangenen Jahr seien viele dieser früh gepflanzten Zwiebeln über den Winter erfroren. Rapünzchen und Spinat mochten sie sehr und hätten für den Winter große Mengen gesät, wo es doch nicht absehbar sei, wann sich die allgemeine Lage bessern werde. Schließlich haben sie auf einer kleinen Presse, die noch voll funktionstüchtig abgedeckt im Werkraum gestanden habe, kleine Kalender für das kommende Jahr gedruckt und diese kolorierten sie nun jeden Abend von Hand. Man hoffe sehr, dass sich mit ihnen auf den Jahrmärkten, spätestens aber im Winter zum Christmarkt noch etwas machen ließe. Gottseidank sei der Christmarkt einheimischen Händlern vorbehalten. Die Bauern aus den Bergen drückten sonst die Preise. Jeder schaue, wo er bleibe. Gestern erst hätten sie einen kleinen Kalender mit Bauernregeln und guten Leitsätzen entworfen. Die Menschen hier in der Provinz mochten das Mahnen an ihre Tugenden, vor Gott, so erscheine es Helene zunehmend, sei es die Übereinkunft in diesen Fragen, die hier in der Lausitz Gemeinsamkeit, Trost und Tapferkeit stifte. Und was sei wichtiger in diesen Zeiten als Zuversicht und Hoffnung? Was die Tante zum Beispiel von derlei Empfehlungen hielte: Mäßigkeit und Arbeit sind die wahren Ärzte des Menschen; die Arbeit reizt den Appetit und die Mäßigkeit verhindert die missbräuchliche Befriedigung desselben. Wie oft die Menschen Bildung und Sitte mit Etikette verwechseln! Einen Bubenstreich vergeben sie eher als einen Verstoß gegen die herkömmlichen Formen des Umgangs. Man verdirbt einen Jüngling am sichersten, wenn man ihn verleitet, den Gleichdenkenden höher zu achten als den Andersdenkenden. Man kann einen Vorsatz nicht sicherer abstumpfen, als wenn man ihn öfter durchspricht.
Solcherlei erschien Helene und Martha wie ein Strecken ihrer anmutigen Seelen in den Berliner Himmel, und nichts hofften sie inniger, als mit diesen Zeilen mitten ins Herz der Tante zu gelangen. Bildung heißt, sich mit jedem Menschen auf den Ton setzen zu können, dessen Zusammenklang mit dem eigenen Wohllaut gibt, nicht wahr, verehrte Tante Fanny? Sie sind uns da ein heiliges Vorbild.
Helene und Martha bemühten sich, Zeile um Zeile der Tante frohgemute Eigenständigkeit und zugleich Dankbarkeit zu beweisen. Eine Freude! Diese Behauptung erschien Helene zu schön, um nicht aufgeschrieben zu werden. Martha dagegen empfand einen solchen Ausdruck als Lüge und Demütigung im Verhältnis zur Erschöpfung, die sie in Gedanken an ihr Leben in Bautzen befiel. Der schmale Grat zwischen Stolz und Bescheidenheit im Tone erschien ihnen als wahre Herausforderung des Briefes. Immer wieder wurden Sätze gestrichen und neue formuliert.
Heiliges Vorbild, zweifelte Martha, das könnte sie falsch verstehen.
Warum falsch?
Weil sie vielleicht glaubt, wir wollen uns belustigen. Womöglich empfindet sie sich alles andere als heilig und möchte gar kein heiliges Vorbild sein.
Nicht? Helene sah Martha forschend an. Dann wird sie wenigstens lachen können. Wir sollten den Satz unbedingt schreiben, anders lernen wir sie doch gar nicht kennen.
Martha schüttelte nachdenklich den Kopf.
Nach Stunden erst konnten sie sich an die saubere Abschrift machen, die Helene ausführen musste, da Marthas Schrift in jüngster Zeit häufig wackelig und krumm erschien. Etwas sei an ihrem Auge, behauptete Martha, aber Helene glaubte ihr nicht. Sie schrieb den Satz mit dem heiligen Vorbild und im letzten Satz schließlich fragte sie die Tante höflich, ob sie sie einmal in Bautzen besuchen wolle.
Als nach Tagen und einer Woche und zweien keine Antwort kam, wurde Helene unruhig.
Marthas Augen waren ganz sicher nicht erkrankt. Gingen sie spazieren, und zeigte Helene auf einen weit entfernten Hund, einen sandfarbenen, der dem alten Hund des Vaters ähnlich sah, jenem, der seit dem Tag verschwunden war, an dem der Vater hatte in den Krieg ziehen müssen, oder wies sie auf eine winzige Blume am Wegesrand, hatte Martha keine Mühe, das eine und andere scharf zu erkennen. Helene vermutete, dass die nur an manchen Tagen unsaubere Schrift wie auch ihre plötzliche Zerstreutheit in manchen Stunden in einem gewissen Zusammenhang mit der Spritze stand, die in den vergangenen Monaten manchmal auf dem Waschbeckenrand lag, wo sie offenbar von Martha nachlässig liegen gelassen worden war. Sooft Helene im Krankenhaus jetzt mit Spritzen hantierte, der Anblick einer solchen auf ihrem heimischen Waschbecken schnürte ihr die Kehle zu. Alles in Helene krampfte sich zusammen, wenn sie die Spritze sah und nicht sehen wollte. Die ersten Male erschrak Helene so und schämte sich für Martha, dass sie die Spritze verschwinden lassen wollte, ehe das Mariechen sie entdeckte oder etwa Martha selbst ihre Nachlässigkeit bemerken musste. Doch ein Verschwinden musste erst recht bemerkt werden und ein Schweigen unmöglich machen.
Mit der Zeit gewöhnte sich Helene an den Gedanken, dass Martha eine Gewohnheit, einen alltäglichen Umgang mit der Spritze pflegte. Helene sprach Martha nicht darauf an. Auch hätte sie kaum aufrecht die Frage stellen können, wo sie doch wusste, dass Martha seit dem Sterben des Vaters und Leontines Verlassen hin und wieder geringe Mengen spritzte, Morphium vermutlich, vielleicht Kokain.
Es waren in der Zeit seit Vaters Tod vor allem die Briefe von Tante Fanny, die Helene auf ein noch fremdes Leben jenseits der Bautzener Stadtgrenzen hoffen machten. Allein die Ansichten, die Helene von Berlin kannte, ließen sie von den vielen Gesichtern der Stadt schwärmen. War Berlin mit seinen elegant gekleideten Frauen nicht das Paris des Ostens, das London des Kontinents mit seinen nie endenden Nächten?