Doch Tante Fanny schwieg den ganzen Oktober zu jenem ausführlichsten und prächtigsten Brief, den ihr Martha und Helene je zugedacht hatten. Anfang November ertrug Helene das Warten nicht länger und schrieb erneut. Sie hoffe, der Tante sei nichts zugestoßen? Immerhin, hier in Bautzen sei man ihr wirklich mehr als dankbar für die Vermittlungen zu den Verwandten des Erblassers nach Breslau. Ob der letzte Brief angekommen sei? In Bautzen ginge das Leben so seinen Lauf. Helene habe nach den Prüfungen, das Wort glänzend strich Helene wieder, im September ihre Arbeit in der chirurgischen Abteilung des Krankenhauses aufgenommen. Seither verdiene sie etwas mehr, freue sich aber besonders über die Arbeit, die ihr zugeteilt werde. Martha nahm Helene die Feder aus der Hand und ergänzte mit ihrer krakeligen Schrift, dort erobere sich Helene den Platz der vor zwei Jahren nach Berlin verzogenen Schwester Leontine, einer Freundin. Aufgrund ihres außerordentlichen Talents wünsche sich der Professor nun immer häufiger Helene an seine Seite, wenn er bei schwierigen Operationen eine Unterstützung mit ungewöhnlicher Aufmerksamkeit und sicheren Händen brauche. Helene wollte Marthas Sätze streichen, etwas daran schien ihr prahlerisch und unbotmäßig. Aber Martha sagte, Helenes größter Fehler könne werden, ihre Fähigkeiten zu verheimlichen und schließlich als armes Hascherl bettelnd in den Armen eines Mannes zu enden. Martha hielt Helene die Feder entgegen.
Das glaubst du nicht wirklich? Es wäre Helene lieb gewesen, wenn Martha sie nicht immer wieder auf ihre Weise herausforderte. Helene nahm die Feder und schrieb weiter.
Die Pflege der Mutter sei nunmehr dank der Hinterlassenschaften des Onkels gesichert. Tante Fanny wäre herzlich eingeladen und zu jeder Zeit der willkommenste Gast. Mit besten Grüßen und in der Hoffnung auf ein baldiges Lebenszeichen.
Helene überlegte, ob sie sich für die ausschweifenden Beschreibungen ihrer Wirtschaftsverrichtungen im vorangegangenen Brief entschuldigen sollte. Schließlich mochte die Tante von derlei gelangweilt und abgestoßen sein. Dass sie das heilige Vorbild für eine Beleidigung halten konnte, wollte sich Helene nicht vorstellen. Womöglich empfand sie es als Zumutung, von den beiden protestantischen Nichten aus dem Lausitzer Kaff zum Vorbild erkoren worden zu sein?
Es vergingen Wochen. Erst kurz vor Weihnachten traf der langersehnte Brief ein. Er war umfangreicher und erschien flüchtiger geschrieben als die vorigen, die ineinanderliegenden Buchstaben waren kaum entzifferbar. Sie habe jede Menge mit den Erledigungen für die Festlichkeiten zu schaffen, die Kinder ihres Vetters freuten sich auf Chanukka und sie wolle ihnen kleine Geschenke kaufen, selbst ihr Geliebter rechne zu Weihnachten mit einer Aufmerksamkeit. Der werde schon sehen. Sie erwarte zu Chanukka Besuch von den Vettern aus Wien und Antwerpen mit der ganzen Mischpoke. Gerade heute habe sie alle Hände voll zu tun, weil sie mit ihrer neuen Köchin die Speisefolge für die Festtage besprechen wolle. Die Köchin sei noch ganz grün hinter den Ohren, jung und unerfahren, so dass sie ihr immer wieder beim Zubereiten der Speisen helfen müsse. Das gefalle ihr gut, schließlich koche sie selbst gern und habe es nicht gemocht, mit wieviel Mehl ihre alte, endlich in Pension entlassene Köchin, jede Soße zu einem festen Brei geraten ließ. Je älter die Köchin geworden sei, desto dicker wären ihre Soßen geraten, auch mehrten sich die Mehlklümpchen, die sie entweder mit ihren trüben Augen nicht mehr hatte erkennen können oder die sie vielleicht gar absichtlich in den Soßen hatte ent stehen lassen. Aus Überdruss an der Arbeit? Womöglich im Ärger über ihren Mann, der sie bis an sein Lebensende allein hatte arbeiten lassen und den schlaffen Ärmel als Vorwand dafür genutzt hatte, ihre Tüchtigkeit auszubeuten. Sie habe die alte Köchin im Verdacht gehabt, Milch oder Sahne in die Töpfe zu schütten, obwohl sie ihr mehrfach geboten hatte, solcherlei zu unterlassen. Bestimmt wolle sie nicht heucheln und behaupten, nach alten Speisevorschriften zu leben. Nein, sie möge derlei milchige Manschereien nicht. Mehr noch als die Klümpchen hätten sie zuletzt die täglichen Schimpfereien über den faulen Mann zu Hause gestört. Und das wolle was heißen, wo doch die Soßen kaum noch Soßen zu nennen waren! Dass schließlich die Frikasseestücke aufrecht im Mehlbrei gestanden hätten, dabei sei nicht die Spur mehr von Lorbeer und Zitrone zu schmecken gewesen. Fleischpudding, einfach scheußlich!
Helene und Martha mussten lachen, als sie den langersehnten Brief in den Händen hielten. Eine Welt lag da aufgefaltet vor ihnen, jeder Satz musste mehrmals gelesen werden.
Helene und Martha fragten sich, ob solche Vettern aus Wien und Antwerpen auch ihre Verwandten wären, die Bezeichnung und der Umstand, dass Tante Fanny in keinem ihrer Briefe einen Ehemann erwähnte, ließ die Vermutung zu. Unmerklich richteten sich Martha und Helene auf. Sie saßen auf der Ofenbank und wärmten ihre Rücken. Es schien ihnen, als umspanne der Brief den ganzen Erdball mit einem Netz und wäre Tante Fanny die Vertraute und Kennerin dieser Welt, wenn nicht gar die Welt selbst. Im Postskriptum schrieb die Tante, ihr Weg führe in absehbarer Zeit gewiss nicht in die Lausitz, im Postpostskriptum schrieb sie, aber sie könne sich vorstellen, dass die Mädchen einmal nach Berlin kommen wollten, zu Besuch, und gern auch für länger. Anbei fänden die Mädchen zwei Eisenbahnfahrkarten erster Klasse von Dresden nach Berlin. Gewiss sei Dresden der nächste richtige Bahnhof? Ihre Wohnung sei groß genug, da sie selbst keine Kinder habe. Arbeit gäbe es in Berlin bestimmt für die beiden Mädchen. Sie wolle zu gern dafür sorgen, dass aus ihnen etwas werde.
Helene und Martha sahen sich an. Lachend schüttelten sie den Kopf. Hatten sie noch vor zwei Jahren beim Tode des Vaters geglaubt, ihr Leben werde von nun an darin bestehen, im Krankenhaus zu arbeiten und an der Seite ihrer zunehmend verwirrten Mutter in Bautzen alt zu werden, gab dieser Brief den Auftakt für eine erst zu erträumende Zukunft. Helene griff nach Marthas Hand und wischte ihr eine Träne aus dem Gesicht. Sie betrachtete ihre große und ältere Schwester, die sie stets für die bescheiden wirkende Haltung bewundert hatte, deren Augenaufschlag seine Anmut aus dem vollkommenen Schein einer Reinheit bezog, und deren Reiz doch von jenen Küssen geprägt war, die Helene zwischen Martha und Leontine beobachtet hatte. Helene kannte den Anschein weiblicher Tugend gut, das sittsame und bescheidene, das reine Mädchen, nichts lieber als das sollte ein Mädchen geben, machte ein Mädchen aus, doch etwas anderes sprach aus diesem Brief und weckte jetzt Helenes Verlangen. Helene küsste ihre ältere Schwester auf das Ohrläppchen, sie saugte sich daran fest, und je hemmungsloser der Schwester die heißen Tränen über die Wangen flossen, desto besinnungsloser lutschte Helene — als wäre dieses Lutschen am Ohrläppchen und den salzigen Rinnsalen der Schwester ihre einzige Möglichkeit, deren Tränen nicht zu sehen und nichts denken noch sagen zu müssen. Helene und Martha saßen eine unbestimmte Zeit aneinander, Gesicht an Gesicht. Erst nach einer Weile kam das Denken wieder. Marthas Weinen, die Erleichterung, von der es ausgelöst und gekennzeichnet war, ließ Helene ahnen, wie sehr Martha gelitten haben musste. Wechselte Martha nicht seit zwei Jahren romantische Briefe mit ihrer fernen Freundin in Berlin, die zwar unglücklich in ihrer Ehe war, aber froh über die vielen Theater und Clubs der Stadt? Vor einigen Tagen erst, als Helene noch voller Hoffnung und Ungewissheit auf den Brief von Tante Fanny wartete, hatte sie nicht widerstehen können und heimlich einen an Martha adressierten Brief an sich genommen. Er kam von Leontine aus Berlin. Helene hatte Marthas Spätdienst im Krankenhaus ausgenutzt und den Brief geschickt über dem dampfenden Wasserkessel geöffnet. Süße Freundin, so begann Leontine. Ich kann Dir gar nicht sagen, wie sehr ich Dich vermisse. Das Studium fordert nur selten ein Lernen bis in die späte Nacht. In der Pathologie halte ich schon den jüngeren Studenten Vorträge. Aber die Wochenenden gehören mir. Gestern waren wir tanzen. Antonie brachte ihre Freundin Hedwig mit. Ich führte ihnen ungeniert meine neue Garderobe vor — die habe ich Lorenz entwendet. Meine Freundinnen jubelten, aber ich trage seine Hose nur im Haus. Zum Ausgehen habe ich mir ein neues Kleid genäht. Auch Antonie trug ein bezauberndes Kleid, ein cremefarbenes Teekleid, für das wir sie bewunderten und lobten. Knielang! Ohne Taille! Sie tanzte darin einfach wunderbar, und genoss es, uns um den Verstand zu bringen. Was gibt es Aufregenderes als die Ahnung einer Taille und einer Hüfte, wenn der ganze Schnitt des Kleides behauptet, da wäre nichts!? An ihrem Ausschnitt blühte eine Pfingstrose aus Seide. Wir rissen uns darum, mit ihr zu tanzen. Meine schöne, große Freundin, ich musste immerzu an Dich denken. Weißt Du noch, wie wir die halbe Nacht auf unserem Dachboden getanzt haben? Du süßes, zartes Mäd chen, wie oft bin ich in Gedanken bei Dir. Wie zerreißt es mir das Herz, dass ich auch dieses Weihnachten nicht werde kommen können. Lorenz will davon nichts wissen. Er meint, es wäre eine unnötige Ausgabe, schließlich ginge es meinem Vater doch in Schwester Mimis Familie sehr gut und vermisse mich niemand daheim. Lorenz achtet immer sehr darauf, recht zu haben. Er sagt nichts, das auch nur entfernt zweifelhaft wäre. Ich sage Dir, er hätte Jurist werden sollen. Die Gerichte hätten ihre wahre Freude an ihm. Nur im zivilen Zusammenleben behagt sein rechtschaffener Blick aus den echsenhaft zusammengekniffenen Augen in die Welt wenig. Du kannst Dir denken, wie sehr mich seine Behauptungen reizen. Immerzu könnte ich ihm widersprechen. Doch dann sind mir seine Worte unversehens gleichgültig und ich verlasse häufiger das Zimmer und noch lieber das Haus, ohne ihm zu antworten. Er liebt das letzte Wort und bleibt damit immer öfter allein. Ob ihn das zufriedenstellt? Zum Glück sehen wir uns nur selten. Er schläft in der Bibliothek. Jeden Morgen behaupte ich, man höre sein Schnarchen durch das ganze Haus. Wenn es das nur wäre. Dir kann ich die Wahrheit ja sagen: Er schnarcht so selten wie Du und ich. Aber mir ist es lieber, wenn er am anderen Ende der Wohnung schläft und wir uns möglichst wenig begegnen. Heute Abend gehe ich mit Antonie ins Theater. Vorn an der Hardenbergstraße hat das Terra-Kino geschlossen und an seiner Stelle im Oktober ein Theater eröffnet. Der Ruf von Miss Sara Sampson schallt schon durch die ganze Stadt. Lucie Höflich als Marwood muss einfach wunderbar sein. Aber was erzähle ich Dir, mein Herzblatt, Du hast sie ja noch nie gesehen. Was gäbe ich darum, mit Dir heute Abend dorthin zu gehen. Nicht eifersüchtig sein, Du, mein süßer Honigmund. Antonie wird im April heiraten und sie sagt, sie wäre schon ganz verliebt. Einmal habe ich ihren Bräutigam von Ferne gesehen, er wirkte nicht gerade fein, ein grober, breitbeiniger Kerl war das! Das ganze Gegenteil von der zierlichen Antonie. Wie ist es mit Helenes Prüfungen gegangen? Grüß mir die Kleine, sei umarmt und geküsst, Dein Leo.