Helene schlug sich die Hände vor das Gesicht. Niemals hätte sie erwartet, dass der Professor einen derartigen Zorn gegen Leontine hegte. Wann immer er vor den anderen Schwestern und den Ärzten an sie erinnerte, sprach er voller Respekt und Ehrerbietung von Schwester Leontines Fähigkeiten. Helene hatte geglaubt, einen Stolz in seiner Stimme zu hören, wenn er berichtete, dass seine kleinste Schwester, wie er sie nannte, heute in Berlin studierte.
Nehmen Sie Ihre Hände weg, Helene, rief er und griff mit seinen nach ihren Händen, um sie aus ihrem Gesicht zu zerren, um ihr in die Augen zu sehen, wobei seine Hände ihre Brüste berühr ten, mit dem Handrücken und so grob, dass Helene sich Mühe gab anzunehmen, er bemerke es nicht. Er zog sie jetzt mit beiden Händen am Kopf von ihrem Stuhl hoch. Seine Hände pressten ihre Ohren so fest an den Kopf, dass es schmerzte. Was bilden Sie sich ein, Schwester? Glauben Sie, Sie könnten es jemals besser haben als an meiner Seite, auf meiner Station? Sie dürfen meine Instrumente halten, wenn ich Köpfe öffne, selbst bei der Operation meiner Frau habe ich Sie nähen lassen. Was wollen Sie?
Helene wollte seine Frage beantworten, aber in ihrem Kopf war es taub und still.
Der Professor ließ nun ihren Kopf los und ging mit schnellen Schritten auf und ab. Helene spürte, wie ihr die Ohren weh taten, wie sie glühten. Seit sie zum ersten Mal bei einer Operation dabei gewesen war und seine Hände entdeckt hatte, die ruhig und sicher wirkten, fast sanft, so als spiele er ein Instrument und lange nicht nach Knochen und Sehnen, Gewächsen und Arterien, seit diesem ersten Anblick seiner Hände, der Beobachtung der feinen und genauen Bewegungen einzelner Finger, hatte sie ihn bewundert. Anfangs hatte sie ihn gefürchtet, ob ihrer Bewunderung und seiner Fähigkeiten, später lernte sie ihn schätzen, gerade weil er diese niemals missbrauchte, um einen seiner Mitarbeiter zu demütigen, weil er stets im Dienste der Patienten und seiner Kunst, der medizinischen Kunst, stand. Noch nie hatte Helene ein lautes Wort, geschweige denn eine grobe Geste an ihm bemerkt. Selbst wenn sie zehn Stunden am Stück gearbeitet hatten, einmal fünfzehn Stunden, die halbe Nacht hindurch, nach dem Unglück in der Waggonfabrik, stets schien der Professor von einer göttlichen Ruhe beseelt, die nicht nur an Selbstgewissheit, auch an Güte denken ließ. Jetzt drehte der Professor die Lampe seines Schreibtisches so, dass sie Helenes Augen blendete.
Übermut? Der Professor fragte, als wolle er eine Anamnese stellen. Wohl kaum, gab er sich zur Antwort. Er trat einen Schritt auf sie zu und nahm ihr Kinn in seine Hand.
Gedankenlosigkeit? Gewiss. Dabei legte der Professor den Kopf schief und seine Stimme wurde sanft. Vielleicht: Dummheit? Als überlege er, ob Helene mit dieser Diagnose zu helfen sei.
Helene senkte die Augen. Verzeihen Sie, bitte.
Verzeihen? Dummheit ist das Letzte, was ich verzeihen könnte. Sagen Sie mir offen und frei heraus, was versprechen Sie sich von Berlin, Kind?
Helene sah auf den Boden, der blank gewichst war. Wir, wir, sie stammelte und suchte nach Worten, die mehr sagen mochten, als sie denken konnte. Die heutige Zeit, die Teuerung. Herr Professor. Die Menschen wollen vor den Stadtrat ziehen, sie wollen Arbeit und Brot fordern. Auch hier im Krankenhaus gab es Gerüchte um Entlassungen. Davon müssen Sie doch erfahren haben, Herr Professor? In Berlin werden Martha und ich Möglichkeiten haben, bitte verstehen Sie, Möglichkeiten. Wir werden dort arbeiten, studieren — vielleicht.
Studieren — vielleicht? Sie haben ja gar keine Vorstellung, was das bedeutet, Kind. Wissen Sie, welchen Einsatz ein Studium erfordert, welche Beherrschung des Geistes, welche Fordernisse? Denen sind Sie nicht gewachsen. Es tut mir leid, Ihnen das offen sagen zu müssen, Kind, aber ich möchte Sie warnen. Ja, ich muss Sie warnen. Und die Kosten, Sie machen sich keine Vorstellung von den Kosten. — Wer soll für Sie aufkommen, wenn Sie studieren? Sie sind doch kein Freiwild, das als Dirnen durch die Welt tingeln wollte.
Gewiss, Herr Professor, gewiss. Mehr fiel Helene nicht ein. Sie schämte sich.
Gewiss, murmelte der Professor. Sein Blick haftete auf ihrem großen und flachen Gesicht, das bestimmt nichts verbergen konnte, schwer schien sein Blick, er drückte sich in sie, sie wollte etwas erwidern, seinen Blick abwehren, aber sie erkannte ein Begehren darin, das sie eilig wegsehen und ihren Tränen jetzt freien Lauf ließ. Sie nahm ihr Taschentuch aus dem Ärmel und tupfte sich die Augen ab.
Helene. Die sanfte Stimme des Professors schmiegte sich in ihr Ohr. Weinen Sie nicht, Kind. Sie haben ja niemanden, ich weiß. Niemand, der für Sie sorgt und Sie schützt, wie nur ein Vater es könnte.
Diese Worte ließen Helene noch heftiger weinen, sie wollte es nicht, aber sie schluchzte jetzt und ließ es zu, dass der Professor seine Hand auf ihre Schulter und sogleich seinen Arm um sie legte.
So hören Sie doch auf, flehte er. Helene, verzeihen Sie mir meine Strenge. Helene. Der Professor drückte sie nun vorsichtig an sich, Helene spürte, wie sein Bart ihr Haar berührte, wie er den Kopf senkte und Mund und Nase auf ihrem Haar lagen, als wären sie Mann und Frau und gehörten zusammen, als Mann und Frau. Es war das erste Mal, dass ihr ein Mann so nahe war. Er roch nach Tabak und Wermut und vielleicht nach Mann. Helene bemerkte das Flimmern in ihrer Brust, ihr Herz raste. Ihr wurde heiß und kalt und dann war ihr übel. Sie musste das Atmen vergessen haben. Schließlich dachte sie nur noch daran, dass er sie loslassen müsse, weil sie ihn andernfalls von sich stoßen musste, mit aller Kraft, von sich weg, wie es sich wohl gehörte für ein junges Mädchen.
Und er ließ los. Ganz plötzlich. Einfach so. Er trat einen Schritt zurück und wandte sich ab. Ohne sie anzusehen sagte er mit trockener Stimme: Ich werde Sie mitnehmen, Helene, nach Dresden, Sie und Ihre Schwester. Sie sagen, die Fahrkarten für die Weiterreise haben Sie?
Helene nickte.
Der Professor trat hinter seinen Schreibtisch und rückte den Stapel Bücher auf Kante.
Natürlich werde ich Ihnen in Dresden die Protokolle schreiben, beeilte sich Helene zu sagen. Ihre Stimme klang leise.
Wie bitte? Der Professor sah sie jetzt fragend an. Protokolle? Ach, das meinen Sie. Nein, Schwester Helene, Sie werden keine Protokolle für mich schreiben, jetzt nicht mehr.
In den kommenden Wochen bestellte der Professor nur noch selten Schwester Helene an seine Seite zum Operationstisch. Auch diktierte er ihr keine Berichte und Briefe mehr. Und jede Tätigkeit, die abseits des Operationstisches wartete, unterstand den strengen Anweisungen der Oberschwester. Helene reinigte die Instrumente, sie wusch und fütterte die Patienten in den Betten und leerte die Bettpfannen. Sie kratzte den Alten den Belag von der Zunge und salbte ihre Wunden. Da ihr der Schlüssel zum Giftschrank noch nicht entzogen worden war, konnte sie winzige Mengen Morphium für Martha beiseiteschaffen. Durch die Flügeltür hörte sie das Schreien und Winseln der Frauen aus dem Kreißsaal, und an Sonnentagen beobachtete sie, wie die Frauen im Garten ihren Neugeborenen den Schnee zeigten. Die Station der Wöchnerinnen war in der festen Hand der Hebammen. Wollte Helene hierbleiben, wäre sie wohl hinübergegangen und hätte ihre Hilfe angeboten. Aber hätte sie hierbleiben wollen, würde sie noch am Operationstisch stehen und dem Professor seine Instrumente reichen, die Nadel nehmen und Bäuche zunähen. Helene schrubbte die Böden. Der Vorteil war, dass sie nun häufiger mit Martha arbeitete und sie gemeinsam beim Aufwischen der Flure über die Zukunft und Berlin sprechen konnten. Ungeachtet der Operationen, an denen Helene kaum noch teilnahm, zumal sich der Professor eine neue Schwester an die Seite geholt hatte, ließ der Professor an der Einlösung seines Versprechens nicht den geringsten Zweifel. Es galt nur zu warten, bis es März und bald Ende des Monats wurde.