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Im Zug standen sie im Gang, die Menschen schubsten und drängelten, die Kinder mussten sich auf die Koffer stellen. Peter stand gern auf dem Koffer, jetzt war er genauso groß wie seine Mutter. Wenn seine Mutter sich umdrehte, was sie immer wieder tat, kitzelten ihn ihre Haare, eine Locke war aus der gesteckten Frisur gefallen. Die Mutter duftete nach Flieder. Neben ihr blieb die Tür zum Sitzabteil offen, dort standen zwei junge Mädchen in kurzärmligen Kleidern auf ihren Koffern und hielten sich an der überfüllten Gepäckablage fest. Unter ihren Armen wuchsen spärlich erste Härchen, und Peter reckte sich über die Schulter seiner Mutter, um besser nach ihren Kleidern sehen zu können, die sich an gewissen Stellen wölbten. Unter seinem Kinn fühlte Peter das angenehme Reiben des Mantels seiner Mutter. Sie musste schwitzen, aber ihren Mantel hatte sie nicht zurücklassen wollen. Es ruckte, und der Zug fuhr langsam an. Am Fenster zogen die Menschen vorüber, die keinen Platz ergattert hatten. Eines der beiden Mädchen winkte und weinte, und Peter sah, dass auch unter dem anderen Arm feine Härchen sprossen.

Halt dich fest, sagte seine Mutter zu ihm, sie deutete mit dem Kopf auf den Türrahmen des Abteils. Auf ihrem blonden, hochgesteckten Haar saß das Häubchen, noch immer trug sie es, trotz Mantel und obwohl sie doch gar nicht im Krankenhaus waren. Träumst du? Halt dich fest, herrschte sie ihn an. Doch Peter legte seine Hände auf die Schultern seiner Mutter, ihm fiel der Soldat ein, der hinter der Tür gehockt und geschluchzt hatte, Peter war froh, dass sie nun endlich verschwanden, und er wollte die Arme um seine Mutter schlingen. Da bekam er einen Ellenbogen in den Rücken und stieß mit solcher Wucht gegen seine Mutter, dass diese fast das Gleichgewicht verlor, der Koffer unter Peters Füßen schwankte, er kippte, und Peter fiel nun auf seine Mutter. Die Mutter stolperte in das Abteil. Niemals hätte sie aufgeschrien, sie knurrte nur widerwillig. Peter legte seine Hand an ihre Hüfte, um die Verbindung nicht zu verlieren. Er wollte ihr aufhelfen. Ihre Augen funkelten böse, Peter entschuldigte sich, doch die Mutter schien es nicht zu hören, ihr Mund blieb schmal verschlossen, sie drückte seine Hand von sich. Um jeden Preis wollte Peter nun ihre Aufmerksamkeit erobern.

Mutter, sagte er, aber sie hörte ihn nicht. Mutter, wieder fasste er nach ihrer Hand, die kalt und kräftig war, und die er liebte. Im nächsten Augenblick ruckte der Zug, so dass die Menschen übereinanderfielen und die Mutter sich für die weitere Fahrt mit beiden Händen an Gepäckablage und Türrahmen festhielt, während Peter nun ihren Mantel ergriff, ohne dass sie es bemerken und ihn daran hindern konnte.

Kurz vor Pasewalk blieb der Zug auf offener Strecke stehen. Die Türen wurden geöffnet, und die Menschen drängten und schubsten sich gegenseitig aus dem Zug. Peter und seine Mutter ließen sich von der Menschenmasse schieben, bis sie den Bahnsteig erreichten. Eine Frau schrie laut, man hatte ihr Gepäck gestohlen. Erst jetzt fiel Peter auf, dass sie die Schwangere verloren hatten. Vielleicht war sie in Scheune gar nicht zurückgekehrt, nachdem sie wegen ihrer Notdurft hatte verschwinden müssen? Peters Mutter lief nun schnell, Menschen kamen ihnen entgegen und standen ihnen im Weg, Peter wurde immer wieder angerempelt und hielt sich umso fester am Mantel seiner Mutter.

Du wartest hier, sagte seine Mutter, als sie an eine Bank kamen, wo in diesem Augenblick ein alter Mann aufgestanden war. Von hier fahren Züge nach Anklam und Angermünde, vielleicht gibt es Fahrkarten. Ich bin gleich zurück. Sie nahm Peter bei den Schultern und drückte ihn auf den Sitz.

Ich hab Hunger, sagte Peter. Lachend klammerte er sich an ihren Armen fest.

Ich bin gleich zurück, wart hier, sagte sie.

Und er: Ich komm mit.

Und sie: Lass mich los, Peter. Doch er stand schon auf, um ihr zu folgen. Nun drückte sie ihm den kleinen Koffer entgegen und presste ihn mitsamt dem Koffer auf die Bank zurück. Peter musste jetzt den Koffer auf dem Schoß festhalten, er konnte nicht mehr nach ihr greifen.

Du wartest. Das sagte sie streng. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht, sie strich ihm über die Wange, und Peter war froh. Er dachte an die Bockwürstchen, die die Dame in Scheune ausgerufen hatte, vielleicht gab es hier welche, er wollte seiner Mutter suchen helfen, überhaupt helfen wollte er ihr, er öffnete den Mund, aber sie duldete keinen Widerspruch, sie drehte sich um und tauchte in der Menschenmenge unter. Peter spähte ihr nach und entdeckte ihre Gestalt hinten an der Tür zur Bahnhofshalle.

Er musste dringend und hielt Ausschau nach einer Toilette, aber er wollte warten, bis sie zurück war, schließlich konnte man sich auf solchen Bahnhöfen leicht verlieren. Langsam ging die Sonne unter. Peters Hände waren kalt, er hielt den Koffer fest und wippte mit den Knien. Kleine Farbpartikel vom Koffer klebten an seinen Händen, ochsenblutrot. Immer wieder blickte er in die Richtung der Tür, wo er seine Mutter zum letzten Mal gesehen hatte. Menschen strömten vorüber. Die Laternen gingen an. Irgendwann stand die Familie neben ihm von der Bank auf und andere setzten sich. Peter musste an seinen Vater denken, der irgendwo in Frankfurt eine Brücke über den Main bauen würde, er wusste, wie er hieß, Wilhelm, aber nicht, wo er wohnte. Sein Vater war ein Held. Und seine Mutter? Auch ihren Namen kannte er, Alice. Sie hatte eine fragwürdige Herkunft. Peter schaute wieder zu der Tür, die in die Bahnhofshalle führte. Sein Hals war steif geworden, weil er nun schon Stunden so saß und in diese Richtung starrte. Ein Zug kam, die Menschen ergriffen Gepäckstücke, ihre Nächsten, alles musste festgehalten werden. Anklam, der Zug fahre nicht nach Angermünde, nach Anklam. Die Menschen waren zufrieden, solange es weiterging. Es war nach Mitternacht, Peter musste nicht mehr, er wartete nur noch. Der Bahnsteig hatte sich geleert, vermutlich waren die verbliebenen Wartenden in die Bahnhofshalle gegangen. Wenn es einen Fahrkartenschalter gab, hatte der nicht schon lange geschlossen? Vielleicht gab es gar keine Bahnhofshalle mehr hinter der Tür, womöglich war auch dieser Bahnhof wie der in Stettin zerstört worden. Am hinteren Ende des Bahnsteigs erschien eine blonde Frau, Peter stand auf, der Koffer klemmte jetzt zwischen seinen Beinen, er reckte sich, aber es war nicht seine Mutter. Eine Weile blieb Peter stehen. Als er wieder saß und an seinen Lippen nagte, hörte er seine Mutter sagen, er schäle und esse sich an allen möglichen Stellen seines Körpers, er sah ihren angeekelten Gesichtsausdruck vor sich. Irgendeiner, das sagte sich Peter, irgendeiner musste kommen. Peter fielen die Augen zu, er öffnete sie, er durfte nicht schlafen, sonst würde er nicht bemerken, wenn einer ihn suchen käme, er kämpfte gegen den Schlaf, dachte an die Hand und zog die Beine auf die Bank hinauf. Er legte den Kopf auf die Knie und ließ doch den Blick nicht von der Bahnhofstür. Als der Morgen graute, erwachte er mit Durst, und der nasse Stoff des Hosenbodens klebte an seiner Haut. Jetzt stand er auf, er wollte eine Toilette und Wasser suchen.

Die Welt steht uns offen

In einem Bett aus Metall, weiß emailliert, lagen zwei Mädchen und stießen abwechselnd mit ihren nackten Füßen gegen das heiße Kupfer der Wärmflasche. Immer wieder versuchte die Kleine mit den Zehen stoßend und der Ferse schiebend das Kupfer auf ihre Seite zu schaffen. Doch im letzten Augenblick hinderte sie das lange Bein der Schwester. Die Länge ihrer Beine und ihre schmalen, grazilen Füße bewunderte Helene an Martha. Aber die Entschlossenheit, mit der Martha scheinbar mühelos die Wärmflasche für sich beanspruchte und Helenes Begehrlichkeiten zurückwies, ließ Helene verzweifeln. Sie stemmte ihre Hände gegen den Rücken der Schwester und suchte mit den kalten Zehen einen Weg vorbei an den Beinen und Füßen unter der schweren Decke. Das Licht der Kerze flackerte, jeder Windstoß, ausgelöst vom Gerangel unter der Decke und ihrem plötzlichen Heben und Senken, bewegte die Flamme. Helene wollte lachen und weinen vor Ungeduld, sie presste die Lippen zusammen und umfasste die Schwester, das Nachthemd war hoch gerutscht und Helene gelangte mit ihrer Hand auf Marthas nackten Bauch, Marthas Hüfte, Marthas Schenkel. Helene wollte sie kitzeln, aber Martha wand sich, Helenes Hände glitten immer wieder ab und bald musste Helene sie kneifen, um auch nur etwas von Martha zu fassen zu kriegen. Es gab eine stillschweigende Abmachung zwischen beiden, keine durfte einen Laut von sich geben.