Martha schrie nicht, sie hielt Helenes Hände einfach fest. Ihre Augen glänzten. So stark sie konnte, drückte sie Helenes Hände zwischen ihren zusammen, es knackte, Helene fiepte, sie winselte, Martha presste, bis Helenes Widerstand erloschen schien und die Kleine immer wieder flüsterte: Lass los, bitte, lass los.
Martha lächelte, sie wollte jetzt gern eine Seite in ihrem Buch umblättern. Die blonden Wimpern der kleinen Schwester flatterten, ihre Augen barsten. Wie fein das Geäst der Adern ihre Augäpfel umspannte. Kein Zweifel, Martha würde Helene be gnadigen, früher oder später. Das alles wegen einer kupfernen Wärmflasche zu ihren Füßen. Helenes Flehen klang vertraut, es beruhigte Martha. Sie ließ die Hände der Kleinen los, wandte ihrer Schwester den Rücken zu und zog das Federbett mit sich.
Helene fror, sie setzte sich auf. Und obwohl ihre Hände noch schmerzten, streckte sie sie aus, berührte Marthas Schulter und fasste nach ihrem dicken Zopf, aus dem überall kleine Locken sprossen. Marthas Haar war wild und weich zugleich, nur wenig heller als das schwarze Haar der Mutter. Helene beobachtete es gern, wenn Martha die Mutter kämmen durfte. Die Mutter saß dann mit geschlossenen Augen da und summte ein Lied, das wie das Schnurren einer Katze klang, in verschiedenen Tonhöhen schnurrte sie behaglich, während Martha mit der Bürste das dicke und lange Fell der Mutter striegelte. Einmal stand Helene am Waschtisch, sie spülte das Laken, und als die Seife raus war, wrang sie es über dem großen Eimer aus. Sie gab acht, dass kein Wasser auf den Küchenboden spritzte. Es war nur eine Frage der Zeit, wann die Mutter aufschrie. Sie schrie nicht hoch und hell, sondern tief und kehlig, mit der Inbrunst eines großen Tieres. Die Mutter bäumte sich auf. Ihr Stuhl, auf dem sie bis eben gesessen hatte, krachte zu Boden. Sie schubste Martha von sich, die Bürste fiel zu Boden. Unter heftigen und ziellosen Bewegungen der Arme schlug sie um sich, Spangen und Kämme flogen vom Tisch, sie trat nach dem Stuhl, fasste ihn, hob ihn hoch und schleuderte ihn in Helenes Richtung. Ihr Brüllen dröhnte, als habe die Erde ihren Schlund aufgerissen und grolle. Die auf dem Tisch liegenden Häkeleien flogen quer durch das Zimmer. Etwas hatte geziept.
Doch während die Mutter über ihre Töchter schimpfte, fluchte, sie habe eine nichtsnutzige Brut geboren, wiederholte Helene wie ein Gebet immer denselben Satz: Darf ich dich kämmen? Ihre Stimme zitterte: Darf ich dich kämmen? Als eine Schere durch die Luft flog, hob sie schützend die Arme über ihren Kopf: Darf ich dich kämmen? Und kauerte sich unter den Tisch. Darf ich dich kämmen?
Die Mutter hörte sie anscheinend nicht, erst als Helene schwieg, wandte sich die Mutter zu ihr um. Sie beugte sich nach vorn, um Helene besser unter dem Tisch sehen zu können, ihre grünen Augen blitzten. Bloß das nicht, schnaubte die Mutter. Sie richtete sich auf und schlug mit der flachen Hand auf den Tisch, dass es ihr weh tun musste. Helene solle unter dem elenden Tisch hervorkommen. Sie sei noch ungeschickter als die Große. Die Mutter betrachtete das kriechende, sich umständlich aufrichtende Mädchen mit seinen hellen, goldenen Locken wie eine Fremde.
Haare willst du kämmen. Die Mutter lachte böse. Pah, nicht mal die Wäsche kannst du richtig wringen! Die Mutter packte das Laken aus dem Eimer und schleuderte es zu Boden. Vielleicht sind dir deine Hände zu schade? Dem Eimer gab die Mutter einen kräftigen Tritt, und noch einen, bis er umfiel, scheppernd.
Unwillkürlich zuckte Helene zusammen, sie wich zurück. Die Mädchen kannten die Wutausbrüche ihrer Mutter, allein die Plötzlichkeit, dass es keinerlei Vorwarnung gab, ließ sie erschrecken. Winzige Bläschen zersprangen auf den Lippen der Mutter, neue bildeten sich, sie schillerten. Zweifellos, die Mutter schäumte, sie kochte. Geifernd erhob sie ihren Arm, Helene machte einen Schritt seitwärts und fasste nach Marthas Hand. Etwas streifte Helenes Schulter und klirrte und brach unter dem Schreien der Mutter am Boden entzwei. Glas zersprang. Tausend Splitter, abertausend. Helene flüsterte die unfassbare Zahl, die unbegreifliche, abertausend. Abertausend glitzerte. Unzählige Scherben lagen verstreut. Die Mutter musste ihre Vase aus böhmischem Glas vom Schrank gerissen haben. Helene wollte weglaufen, nur waren ihre Beine zu schwer.
Die Mutter krümmte sich, sie schluchzte und sank auf die Knie. Die Scherben mussten sich durch den Stoff ihres Kleides bohren, doch es kümmerte sie nicht. Sie durchfurchte mit ihren Händen die grünen Scherben und erstes Blut quoll zwischen ihren Fingern hervor, sie weinte wie ein Kind, zartes Stimm chen, fragte, ob denn kein verdammter Gott da sei, der ihr helfen wolle, sie wimmerte, und schließlich stammelte sie in einem fort den Namen Ernst Josef, Ernst Josef.
Helene wollte sich bücken, sich zu ihrer Mutter knien, sie trösten, aber Martha hielt sie entschlossen zurück.
Wir sind es, Mutter. Das sagte Martha streng und gefasst. Wir sind hier, Ernst Josef ist tot wie deine anderen Söhne auch, tot geboren, hörst du, Mutter. Zehn Jahre, tot. Aber wir sind da.
Aus Marthas Stimme klang die Empörung und Wut, es war nicht das erste Mal, dass sie der Mutter die Stirn bot.
Ah! Die Mutter brüllte, als ramme Martha ihr einen Dolch in die Brust.
Da zog Martha Helene mit sich aus dem Zimmer.
Widerlich, flüsterte Martha, das müssen wir uns nicht anhören, Engelchen, komm, wir gehen.
Martha legte ihren Arm um Helene. Sie gingen in den Garten und hängten die Wäsche auf.
Immer wieder hatte Helene hinauf zum Haus blicken müssen, wo durch das geöffnete Fenster das Klagen und Schreien der Mutter leiser und seltener geworden und schließlich gänzlich verstummt war, so dass Helene fürchtete, die Mutter sei nun verblutet oder habe sich noch Schlimmeres angetan.
Helene dachte weiter, als sie neben Martha im Bett saß, dass der Mutter das Schreien womöglich nur vor ihren Kindern gelang, allein musste es ihr zwecklos erscheinen. Was galt das Schreien schon ohne Gehör? Helene schüttelte sich vor Kälte und berührte den Zopf der Schwester, den Zopf, aus dessen Inneren Löckchen sprossen, fein und weich, der Schwester, die gut war, die sie im Zweifel beschützte.
Ich friere, sagte Helene. Bitte, lass mich unter die Decke.
Und sie war froh, als sich der Berg vor ihr öffnete und Martha ihre Hand ausstreckte, den Arm wie einen Stützpfeiler hob, damit Helene zu ihr unter die Federn schlüpfen konnte. Helene steckte ihre Nase in die Achselhöhle der Schwester, und als diese sich wieder zu ihrem Buch umdrehte, drückte Helene ihr Gesicht in Marthas Rücken, in tiefen Zügen atmete sie den warmen und vertrauten Geruch. Helene überlegte, ob sie ihr Abendgebet sprechen sollte. Sie konnte die Hände falten. Ihr war wohl zumute. Ein Gefühl von Dankbarkeit durchströmte sie, doch empfand sie es Martha gegenüber, nicht gegenüber Gott.
Im Schatten des Kerzenlichts spielte Helene mit Marthas Zopf. Der matte Schein ließ ihr Haar noch dunkler erscheinen als es war, fast schwarz waren die Locken. Helene streichelte sich mit Marthas Zopfende über die Stirn, die Haare kitzelten sie an den Wangen und an den Ohren. Martha blätterte eine Seite ihres Buches um und Helene begann mit dem Zählen der Sommersprossen auf Marthas Rücken. Jeden Abend zählte Helene Marthas Sommersprossen. War sie sich der Zahl auf der linken Schulter bis zum Muttermal über der Wirbelsäule sicher, schob sie den Zopf zur Seite und zählte rechts weiter. Martha ließ sich das gefallen, sie blätterte eine Seite um und kicherte leise.