Tut mir leid, wir haben hier unsere Anweisungen, und an die halten wir uns. Sie können diese Frau nicht einfach mitnehmen, selbst wenn es Ihre Tochter wäre, dürften Sie nicht.
Komm Mutter, Helene packte ihre Mutter unter den Armen und wollte sie hochziehen.
Der Pfleger sprang mit einem Satz auf sie zu und trennte Mutter und Tochter. Hören Sie nicht? Das sind Anweisungen.
Ich möchte den Professor sprechen. Wie war sein Name, Nitsche?
Der Professor befindet sich in einer wichtigen Besprechung.
So? Dann werde ich warten, bis die Besprechung vorüber ist.
Tut mir leid, Fräulein. Er wird Sie trotzdem nicht sprechen. Sie müssen ihn schriftlich um einen Termin bitten.
Schriftlich? Helene suchte in ihrer Tasche, sie fand das schwarze Notizheft, das Wilhelm ihr vor wenigen Tagen geschenkt hatte, und riss eine Seite heraus. Von ihren Händen strömte ihr der Geruch ihrer Mutter entgegen, ihr Lachen, ihre Furcht, der Talg ihres Haares und der Schweiß ihrer Achseln. Mit dem Bleistift schrieb sie: Sehr geehrter Herr Professor.
Fräulein, ich muss Sie bitten. Wollen Sie, dass wir Sie auch hierbehalten? Ich denke, der Professor hätte unter diesem Gesichtspunkt ein gewisses Interesse — schließlich untersucht er die Erblichkeit solcher Erkrankungen. Wie ist Ihr Name noch gleich?
Respekt, junger Mann, Wilhelms Augenblick war gekommen, er mischte sich ein. Sie werden das Fräulein jetzt gehen lassen. Die junge Frau ist meine Verlobte.
Der Pfleger öffnete die Tür. Wilhelm hielt Helene seinen Arm hin. Kommst du, Schätzchen?
Helene wusste, dass ihr keine andere Möglichkeit blieb. Sie nahm Wilhelms Arm und ging zur Tür hinaus. Am Ende des Flurs hörten sie hinter sich ein gellendes Schreien. Es war nicht deutlich, ob es das Schreien eines Tieres oder eines Menschen war. Auch konnte Helene nicht erkennen, wessen Schreien es war; es konnte das Schreien ihrer Mutter gewesen sein. Ein Pfleger schloss ihnen die Tür auf. Wilhelm und Helene gingen schweigend den folgenden Flur entlang. Die Stille an diesem Ort war unheimlich, sie hatte etwas Endliches.
Im Zug nach Berlin nahmen Wilhelm und Helene schweigend Platz. Der Zug fuhr durch einen Tunnel. Helene spürte, dass Wilhelm auf ihren Dank wartete.
Bitte, sagte sie, nenn mich nicht mehr Schätzchen.
Aber du bist doch mein Schätzchen. Wilhelms Augen hafteten an Helenes Gesicht. Morgen muss ich wieder für eine Woche nach Stettin. Ich will dich nicht länger in Berlin allein lassen.
Warum sollte ich allein sein? Meine Patienten warten auf mich, sie brauchen mich.
Glaubst du, es gibt in Stettin keine Patienten, die auf dich warten? Die findest du auf der ganzen Welt. Aber mich gibt es nur einmal. Alice, mein süßes Fräulein, deine Enthaltsamkeit ist edel, um die Wahrheit zu sagen, sie macht mich verrückt. Es muss auch mal Schluss damit sein. Ich brauche dich.
Helene nahm seine Hand. Du musst mich nicht überreden, sagte sie, sie küsste seine Hand. Es war gut zu hören, dass sie gebraucht wurde. Wie sollte sie darüber sprechen?
Mit welchen Urkunden kann ich dich heiraten? Sie flüsterte. Ich besitze keine, keine einzige.
Das lässt sich machen, behauptete Wilhelm leichthin. Hast du nicht einmal erzählt, dass du Druckpressen bedient hast?
Helene schüttelte den Kopf. Das Papier, die richtigen Lettern, Stempel und Siegel. Urkunden sind alles andere als einfach zu drucken.
Lass das meine Sorge sein, versprochen?
Helene nickte, es war gut, wenn er sich darum kümmern wollte. Wilhelm erwähnte einen Bruder in Gelbensande, der seit der Heirat einen Hof bewirtschafte, sich aber mit dem Herstellen von Papieren auskenne.
Im Krankenhaus drohte man Helene seit geraumer Zeit, sie möge endlich ihre Unterlagen beibringen, den Ausweis, wenigstens die Geburtsurkunde und die Geburtsurkunden ihrer Eltern, am liebsten ein Familienbuch ihrer Eltern, das wollte man sehen. Helene hatte behauptet, sie besitze keinen Ausweis, und immer wieder gab sie sich überrascht, sie habe ihre Unterlagen vergessen. Man hatte ihr eine Frist gesetzt. Bis zum Monatsende sollte sie die Unterlagen beibringen, andernfalls würde man sie entlassen.
Erst als Helene aus dem Korb einen schon leicht schrumpeligen Apfel holte, ihn an ihrem weißen Rock abrieb und ihn mit dem Messer teilte und entkernte, um Wilhelm ein Viertel zu reichen, und ihr Blick weit hinüber zum Odertal und zu den anliegenden Höhenzügen, den Hafenanlagen und bis zum Dammschen See reichte, dann etwas näher schweifte, über die Rabatten der Hakenterrasse bis hinunter zur Oder, wo gerade einer der weißen Bäderdampfer anlegte und Menschen mit Sonnenschirmen und Regenschirmen zum Ausflug einlud, denn jeder hatte sich an diesem frühen Maitag für ein anderes Wetter entschieden, fiel ihr auf, dass sie sich nie eine Hochzeit vorgestellt hatte. Das war sie. Helene zog sich den Mantel, der ihr lose über den nackten Schultern lag, vor der Brust zusammen. Frisch war es hier, man roch das Meer in der Luft, die Küs tennähe. Helene leckte sich über die Lippen, sie glaubte das Salz zu schmecken. Der Standesbeamte hatte am Morgen den Wind in seine Wünsche einbezogen, weil die Ehe der sichere Hafen sei vor solchen Winden, und die Frau dem Mann, der sie schütze, ein behagliches, sicheres Heim bereiten solle. Er hatte gelacht und ihnen zu einem Schnaps an diesem frühen Maientag geraten. Ein kühler Wind wehte zu ihnen herauf. Wilhelm kaute den Apfel, er kaute kräftig, und Helene hörte sein Malmen, den Saft zwischen seinen Zähnen, den Speichel, die Lust, er beugte sich vor, sah Helene prüfend an, strich ihr die wehende Haarsträhne aus dem Gesicht und küsste ihre Stirn. Jetzt hatte er ein Recht dazu und zu noch mehr. Eine Möwe lachte. Auf dem Weg etwas unterhalb schob eine junge Frau einen Kinderwagen, sie schob ihn mit der Hüfte vorwärts, Stoß um Stoß, das Kind hielt sie mit beiden Armen fest an sich gedrückt, es schrie, ein breites Tuch umflatterte sie, sie versuchte, das Tuch um das Kind zu stecken, doch das Tuch stand wieder waagerecht im Wind und das Kind schrie, als habe es Hunger und Schmerzen.
Unglaublich, nicht? Wilhelm schaute hinab.
Bestimmt hat es Bauchweh.
Den Verkehr hier meine ich. Das Apfelstück in der Hand, zeigte Wilhelm mit ausgestrecktem Arm auf ein langes Schiff. Bald kommen auf unserer Autobahn Tonnen Mecklenburgische Rüben hier an, werden verladen und ab in die Welt. In diesem Jahr brechen wir den Rekord von 1913, unser Güterum schlag wird seine Höchstmarke erreichen, achteinhalb Millionen Tonnen, das ist gigantisch. Nur richtig, dass wir die Internationalisierung unserer Wasserstraßen aufgehoben haben. Versailles kann uns nicht diktieren, was wir mit unseren Flüssen machen. Wilhelm stand auf und zeigte mit ausgestrecktem Arm nach Nordosten. Schau mal, der Klotz da vorne. Die stellen in den nächsten Wochen ihren zweiten Bauabschnitt fertig, der größte Getreidespeicher Europas. Wilhelm stand und staunte, er staunte stolz, die Fäuste auf die Hüften gestemmt, zweifellos gehörte der Speicher zu ihm und er zum Speicher. Wilhelm setzte sich wieder. Helene verzog den Mund und presste die Lippen aufeinander, nur mühsam unterdrückte sie ein Gähnen. Wenn Wilhelm in Fahrt kam, war es schwer, sein Frohlocken über neue technische Errungenschaften und Bauwerke zu unterbrechen. Siehst du den Mast, den das Schiff hat, da rechts? Das ist die Antenne, damit können wir Funkwellen, Radiosender empfangen und dort drüben, mit diesem Mast können wir senden.
Wozu?
Zur besseren Kommunikation, Alice. Da hinten kommt die Rügen, zwei Schornsteine, Mannomann, darunter macht es ein Gribel nicht. Wilhelm ließ seinen Arm sinken und stützte sich damit im Gras auf. Er sah jetzt Helene an. Sie spürte, wie sein Blick über sie glitt und an ihrem Gesicht hängen blieb.
Die Aussicht auf die bevorstehende Hochzeitsnacht machte Helene verlegen. Den ganzen Tag hatte sie seine frohen Blicke auf sich gespürt und war ihnen ausgewichen. Jetzt musste sie die Augen zusammenkneifen, weil es hier auf der Anhöhe hell war und windig. Sie blickte zurück.