Schenkst du mir ein Lächeln? Wilhelm hob mit seinem Finger ihr Kinn an.
Heute erschien Wilhelm ihr noch größer als sonst, wie er eben gestanden hatte und sie jetzt selbst im Sitzen überragte. Helene bemühte sich um das Lächeln.
Wilhelm hatte sich nicht beirren lassen. Als im September das Blutschutzgesetz verabschiedet worden war, hatte er es kein einziges Mal angesprochen. Seine Bemühungen um die Papiere für Helene hatten sich in die Länge gezogen, sie hatte aufhören müssen, im Bethanien zu arbeiten, und man hatte sie aufgefordert, das Schwesternheim zu verlassen. Zurück in Fannys Wohnung war Helene froh gewesen, dass Erich Fanny offenbar endgültig verlassen hatte. Wilhelm traf Helene, sooft er konnte. Er entschuldigte sich, dass es so lange dauerte, und manchmal gab er ihr etwas Geld, das sie, erleichtert, von Fanny unabhängiger zu sein, in ihr Portemonnaie steckte. Einmal erwähnte Wilhelm, dass sein Kollege die Scheidung eingereicht habe, er wollte sich nicht länger als Rassenschänder bezeichnen lassen. Helene fragte sich, ob er ihr das sagte, damit sie wusste, welches Risiko er für sie einging, oder ob es schlicht ein Ausdruck beginnender Ausblendung war. Schließlich sagte er es so, als läge es ihm gänzlich fern, sich selbst als Rassenschänder zu begreifen. Kurze Zeit später hatten sie sich am Lietzensee nahe dem Damm, über den die Straße führte, verabredet. Die Platanenblätter lagen gelb und glatt am Boden. Wenn schon, denn schon, sagte Wilhelm und gab Helene einen Umschlag. Helene setzte sich auf eine Bank neben den fleckigen Stamm. Wilhelm nahm neben ihr Platz. Er legte einen Arm um sie und küsste ihr Ohr. Sie öffnete den Umschlag, darin befand sich ein Schwesternzeugnis und ein bronzeschimmerndes Heft, ein Büchlein, ein Ahnenpass, etwas angestoßen, aber fast neu. Er roch noch. Sie blätterte. Ihr Name war Alice Schulze, ihr Vater war ein Bertram Otto Schulze aus Dresden, die Mutter eine Auguste Clementine Hedwig, geborene Schröder.
Wer sind diese Leute? Helenes Herz ging gleichmäßig, sie musste lächeln, weil ihr die Namen so neu, unbekannt und vielversprechend klangen, diese Namen sollten zu ihr gehören, ihre sein.
Frag nicht. Wilhelm legte ihr eine Hand auf den Mund.
Und wenn mich jemand fragt?
Die Schulzes waren unsere Nachbarn in Dresden. Einfache Leute.
Wilhelm wollte hier seine Erklärungen beenden, aber Helene ließ ihn nicht in Frieden. Sie kitzelte sein Kinn: Weiter, und lä chelte, weil sie wusste, dass Wilhelm ihr ungern etwas abschlug.
Wir waren neun Kinder, sie hatten nur eins, ein Mädchen. Alice spielte oft allein auf der Straße, bis in die Dunkelheit. Am liebsten kam Alice zu uns rüber und saß dann mit an unserem großen Tisch, sie wollte aber nichts essen, sie wollte nur mit an unserem Tisch sitzen. Eines Tages verbreiteten ihre Eltern die Nachricht, Alice sei weggelaufen. Wir Kinder halfen suchen, aber Alice blieb verschwunden. Du siehst ihr ein wenig ähnlich.
Ich bin verschwunden? Helene lachte auf, die Vorstellung, eine Verschwundene zu sein, beglückte sie.
Sie hatte ungefähr dein Alter. Jeder in unserer Straße glaubte, dass Alice von ihren Eltern umgebracht worden war. Wie konnten sie sonst sicher behaupten, sie wäre weggelaufen?
Von ihren Eltern?
Wilhelm lüpfte mit dem Zeigefinger Helenes Kinn, wie er es gerne machte, wenn sie ihm zu ernst war. Wir haben uns einfach gewundert, dass sie weiterlebten wie immer, man sah keine Anzeichen von Trauer. Nicht mal die Polizei haben sie verständigen wollen. Jeder von uns hat mit dem Gedanken gespielt, zur Wache zu gehen. Alice sollte erst im Sommer in die Schule gehen, also fiel es auch keinem Lehrer auf. Mein Gott, sind nicht von deinen Geschwistern auch einige gestorben? Wer starb nicht alles ohne Urkunde. Bald darauf ist die Frau von der Treppe gefallen und war tot. Der Mann lebte noch bis vor einem Jahr, er ist sehr alt geworden, er war schon immer alt.
Das sollen meine Eltern gewesen sein?
Du wolltest es wissen. Wilhelm rieb sich die Hände, vielleicht war ihm kalt. Da kann man nichts machen, jetzt weißt du es.
Und deren Vorfahren? Die Großeltern, die Urgroßeltern — hier sind lauter Namen vermerkt, die keiner kennt.
Es gibt sie, sagte Wilhelm. Mehr hatte er nicht gesagt, er hatte ihr den Ahnenpass aus der Hand genommen und ihn eingerollt in die Innentasche seines Mantels gesteckt. Er hatte nach ihrer Hand gegriffen und ihr vorgeschlagen, dass sie in Stettin heiraten sollten, wo er in der Elisabethstraße schon seit einigen Monaten eine Wohnung gemietet hatte und Dresdner Stempel und Siegel vielleicht noch weniger bekannt wären als in Berlin.
Helene hatte genickt, sie hatte schon immer einen richtigen, großen Hafen sehen wollen. Noch vor Weihnachten waren sie nach Stettin aufgebrochen. Der Abschied von Martha und Leontine war nicht leichtgefallen. Sie hatten sich am letzten Abend in Leontines Wohnung getroffen, die dicken Samtvorhänge waren zugezogen, Leontine bot einen irischen Whiskey und dunkle Zigaretten an, sie meinte, das wäre das Richtige für den Augenblick.
Wenn ich schreibe, hatte Martha gesagt, dann schreibe ich jetzt an Alice? Leontine hatte lachend eingeworfen, dass niemand einseitig eine Verwandtschaft aufkündigen könne. Jede Woche werde ich dir schreiben, das hatte Martha versprochen, als Elsa mit einer Bautzener Adresse.
In Stettin hatte Wilhelm sie beim Standesamt angemeldet, ihre Verlobung wurde beurkundet und das Aufgebot bestellt. Er ließ Helene in der Kammer neben der Küche schlafen, sie war froh über seine Rücksicht. Die Hochzeit sollte Anfang Mai sein. Helene sollte nicht arbeiten, Wilhelm gab ihr Geld, sie kaufte ein und legte ihm die Kassenzettel auf den Tisch, sie kochte, sie wusch und bügelte, sie heizte. Sie war dankbar. Wünschte sich Wilhelm zum Abendessen Rinderrouladen, konnte es sein, dass Helene den halben Vormittag von Fleischerei zu Fleischerei eilte, um das richtige Fleisch für die Rouladen zu finden. Wilhelm wollte nicht, dass sie vorne in der Bismarckstraße bei Wolff kaufte. Da konnte er noch so freundlich sein und Helene noch so günstige Preise machen. Solche Leute muss man nicht unterstützen, sagte Wilhelm und Helene wusste, was er mit solche meinte und fürchtete, er könne ihr nachgehen und beobachten, ob sie sich an seine Anweisungen hielt. Einmal hatten sie einander zufällig getroffen, Helene war gerade mit zwei Büchern unter dem Arm aus der Bücherei am Rosengarten getreten, als Wilhelm sie von der anderen Straßenseite her zu sich gerufen hatte. Er hatte einen flüchtigen Blick auf ihre Bücher geworfen. Buber, muss man das lesen? Die Stunde und die Erkenntnis, huh, da krieg ich Angst. Welche Erkenntnis versprichst du dir davon, fragte er lachend. Er hatte den Arm um ihre Schulter gelegt und ihr ins Ohr gesagt: Auf dich muss man ja aufpassen. Ich möchte nicht, dass du in diese Bücherei gehst. Die Volksbücherei ist doch gleich um die Ecke. Die paar Meter bis zur Grünen Schanze wirst du schon noch laufen können.
Legte Wilhelm ihr sein Hemd hin, wo ein Knopf abgerissen war, lief Helene von einem Kurzwarenhändler zum nächsten, bis sie nicht den einen richtigen Knopf, wohl aber, zurück im ersten Geschäft, ein ganzes Dutzend passender Knöpfe gefunden hatte, so dass sie die übrigen Knöpfe für den einen fehlenden komplett austauschte. Helene empfand eine Dankbarkeit, die sie fröhlich werden ließ.
Einmal sagte Wilhelm, dass man erst mit dem Eintreten in ihre Wohnung bemerken würde, wie schmutzig der Hausflur wäre. Er meinte es als Kompliment. Du bist wunderbar, Alice. Nur über eins muss ich mit dir sprechen, streng sah er sie an, unsere Nachbarin aus dem Erdgeschoss hat mir erzählt, sie hätte dich letzte Woche in der Schuhstraße zur Tür dieses Kurzwarenhändlers treten sehen. Bader heißt er? Helene spürte, wie sie rot wurde. Baden, Herbert Baden, ich kaufe seit Weihnachten bei ihm, er hat sehr feine Waren, solche Knöpfe gab es nirgends sonst. Wilhelm hatte Helene nicht angesehen, er hatte einen großen Schluck aus seinem Bierglas genommen und gesagt: Mein Gott, dann kaufst du eben andere Knöpfe, Alice. Bist du dir im Klaren, dass du uns gefährdest? Nicht nur dich, mich auch.