Nach einer Stunde wurde Wilhelms Schnarchen unruhig, plötzlich verstummte es und er stand auf, er trottete hinaus und ging auf die halbe Treppe. Als er zurückkam, lauschte Helene mit dem Rücken zu ihm auf das Einsetzen des Schnarchens. Doch das Schnarchen sollte nicht beginnen. Stattdessen spürte sie plötzlich Wilhelms Hand auf ihrer Hüfte. Helene drehte sich zu ihm um, ein Dunst von Bier und Schnaps und süßem Parfüm schlug ihr entgegen. Sie hatte ihn schon zuvor gerochen, aber nicht so stark.
Was für ein großer Tag für dich, du musst erleichtert sein. Helene legte ihre Hand in Wilhelms Nacken, das frisch rasierte Haar fühlte sich sonderbar an.
Pff, erleichtert. Jetzt geht es erst richtig los, Kindchen, jetzt fängts an. Wilhelm konnte die Worte nicht mehr deutlich artikulieren, er schob seine Hand zwischen Helenes Beine, drückte seine Finger in ihre Schamlippen. Komm, sagte er, als sie seine Hand wegschieben wollte. Komm, du kleines Tier, du süßes Fötzlein, komm. Er drückte Helenes Arme zur Seite und wendete ihren Körper. Sie sträubte sich, das reizte ihn, vielleicht glaubte er, sie sträubte sich für ihn, um ihn zu locken, wild zu machen. Was für ein Arsch, sagte er. Helene zuckte zusammen.
Jede gottverdammte Frau, hatte er einmal gesagt, glaube, in das Herz der Menschen schauen zu können, dabei könne er in ihre Scham sehen, er könne tief in ihr Geschlecht blicken, den wohl tiefsten Schlund ihres Körpers, den saftigsten, ein Schlund, der ihm allein gehöre, ein Schlund, wie sie selbst ihn wohl nie sehen könne — so unmittelbar, so geradewegs. Vorhin erst mochte Wilhelm mit den Kollegen bei einer Hure gewesen sein, Helene hatte das blumige Parfüm gerochen. Selbst ein Spiegel erlaubte den Blick nur über Bande. Eine Frau würde nie Herrin des Blickes sein können. Möge sie nur Herzen schauen, so viele sie wollte.
Zum Abschluss klopfte Wilhelm Helene auf das Hinterteil. Das war gut, seufzte er, sehr gut. Er ließ sich auf die Matratze sinken und rollte sich zur Seite, nachher fahren wir nach Braunsfelde, murmelte er.
Wir könnten auch ans Meer, schlug Helene vor.
Meer, Meer, Meer. Immer willst du ans Meer. Da blll, blll, Wilhelm musste lachen, bllläst ein kalter Wind.
Es ist doch noch fast Sommer, gestern waren bestimmt zwanzig Grad.
De, de, de, de, de. Wilhelm lag in der Mitte des Bettes, den Rücken Helene zugewandt, und schmatzte. Meine Frau, die Ilsebill. Ich sollte dich Ilsebill nennen. Du weißt alles besser, was? Aber das macht nichts. Wir fahren nach Braunsfelde.
Ist das Haus fertig?
Das Haus ist fertig, ja. Aber wir nehmen es nicht.
Helene sagte nichts, vielleicht war das einer der Späße, die sie nicht immer gleich verstand.
Da staunst du. Wir fahren nach Braunsfelde und treffen den Architekten und die Käufer. Wir unterzeichnen alles. Ich hab damit nichts mehr am Hut.
Du machst Scherze.
Vielleicht ist das doch ne Frage der Rasse, Kindchen, mit dem Scherzen. Wilhelm drehte sich jetzt zu ihr um. Wir verstehen uns nicht. Warum sollte ich hier ein Haus kaufen, wenn die neuen Aufträge noch nicht ausgehandelt sind?
Helene schluckte. Das Wort Rasse in Bezug auf sie und ihn, das hatte er noch nie so deutlich gesagt.
Für Pölitz sind bedeutende Neuerungen geplant, das wär schon was. Wilhelm schnarchte, unmittelbar nach dem letzten Wort setzte das Schnarchen ein. Helene war es ein Rätsel, wie ein Mensch mitten aus dem Satz heraus in den Schlaf fallen konnte.
Nach dem langen Winter litt Wilhelm unter seiner Haut. Sie hatten zu Abend gegessen, Helene hatte den Tisch abgeräumt und Wilhelm hatte sich mit dem Waschlappen gewaschen. Helene überlegte, wie sie das Gespräch beginnen könnte, ein Gespräch, das ihr wichtig war.
Ekelhaft, diese Unreinheiten, findest du nicht? Wilhelm stand vor dem Spiegel und blickte sich abwechselnd über die linke und die rechte Schulter. Es war nicht einfach für ihn, sich trotz diesem breiten Kreuz von hinten zu sehen. Mit der flachen Hand fuhr er über seine Haut, die Schultern, den Nacken. Hier hinten, eine richtige Beule, schau mal.
Helene schüttelte den Kopf, mir machen sie nichts. Sie stand am Ausguss und wusch in einer Schüssel das Geschirr.
Dir nicht, nein. Ein gequältes Lächeln entglitt Wilhelm. Dir ist es egal, wie ich aussehe. Wilhelm konnte den Blick von seinem Rücken nicht abwenden. Kann man das heilen?
Heilen? Du hast einen schönen, kräftigen Rücken, was willst du heilen? Helene schrubbte den Boden des Topfes, an dem schon seit Wochen die Soßen hakten und anbrannten. Pickel hat man oder hat sie nicht, sagte sie und spülte den Topf jetzt unter klarem Wasser ab.
Das sind ja schöne Aussichten. Wilhelm zog sich ein Unterhemd über, er neigte sich mit der Stirn dem Spiegel zu und betastete seine Haut.
Zink könnte helfen. Helene war unsicher, ob er ihren Ratschlag hören wollte. Sie musste an das andere denken, das, weshalb sie mit ihm sprechen wollte. Allein, wenn sie sich im Stillen den ersten Satz vorsagte, als Mitteilung, als Nachricht, als einfache Abfolge von Worten, spürte sie, wie ihr das Blut ins Gesicht schoss. Die Pickel dagegen machten ihr tatsächlich nichts aus, sie hatten sie noch nie gestört. Ekel, das war etwas anderes. Als sie damals die Maden in der Wunde ihres Vaters gesehen hatte, war sie erstaunt. Wie sie sich im Fleisch krümmten und wanden. Vielleicht bildete sie sich die Erinnerung ein, ihr Gedächtnis war gut, nur keineswegs untrüglich. Aber Ekel? Helene dachte an das Erstaunen, das sie angesichts der Wunde ihres Vaters empfunden hatte. Die Versehrung eines Körpers. Die Juden als Gewürm, der Parasit bin ich, Helene dachte es nur, sie sagte es nicht. Körper und Volkskörper hielten keinem Vergleich stand. Vielleicht konnte sie Wilhelms Leid lindern.
Würdest du den Eiter ausdrücken? Wilhelm lächelte sie an, unsicher und vertraulich, wen konnte er sonst um diesen Gefallen bitten?
Natürlich, wenn du das möchtest. Helene zog die Augenbrauen hoch, sie reinigte die Pfanne. Aber das hilft nicht viel, die Haut wird verletzt, neue Pickel entstehen.
Wilhelm zog sich das Unterhemd wieder aus, stellte sich dicht vor sie und zeigte ihr seinen Rücken.
Helene hängte die Pfanne an ihren Haken, nahm ihre Schürze ab und wusch sich die Hände. Sie machte sich an die Arbeit.
Wilhelms Haut war dick, er hatte eine großporige, feste und sehr helle Haut.
Wilhelm zog die Luft zwischen den Zähnen ein, er musste Helene bitten, etwas vorsichtiger zu sein. Das reicht, sagte er plötzlich und drehte sich zu ihr um.
Helene sah zu, wie Wilhelm sich ein Kleidungsstück nach dem anderen anzog und schließlich seine Schuhe holte, mit genauem Blick prüfte er, ob sie gut geputzt waren, und zog sie an. Offenbar wollte er noch rausgehen. Es war schon spät.
Wir bekommen ein Kind.
Helene hatte sich fest vorgenommen, es Wilhelm an diesem Abend zu sagen. Etwas war schiefgegangen, ganz sicher hatte sie sich nicht verrechnet. Helene konnte sich erinnern. Es musste in der Nacht passiert sein, in der Wilhelm spät nach Hause gekommen war und sie aus dem Schlaf geholt hatte. Sie hatte gewusst, dass dieser Tag gefährlich war, sie hatte versucht, ihn von sich abzubringen, aber es war ihr nicht gelungen. Später hatte sie sich stundenlang gewaschen und eine Spülung mit Essig gemacht, aber offenbar hatte es nichts genutzt. Als ihre Periode ausblieb, hatte sie an einem Wochenende, als Wilhelm beruflich nach Berlin fuhr und sie unter keinen Umständen mitnehmen wollte, eine Flasche Rotwein gekauft und diese bis zum letzten Tropfen leer getrunken. Sie hatte ihre Stricknadeln genommen und gestochert. Irgendwann blutete sie und schlief ein. Aber es kam keine Periode mehr. Schon seit Wochen wusste sie es, sie hatte nach Auswegen gesucht. In Stettin kannte sie niemanden, aus Berlin kam seit Monaten kein Brief. Einmal wollte Helene bei Leontine anrufen. Es hatte niemand abgenommen. Als sie bei der Vermittlung Fannys Nummer verlangte, sagte ihr die Vermittlerin, dass diese Nummer nicht mehr vergeben sei. Vermutlich hatte Fanny ihre Rechnungen nicht bezahlen können. Es gab keinen Ausweg mehr, nur noch Gewissheit. Wilhelm schaute von seinen Schuhen auf.