Wir?
Helene nickte. Sie hatte damit gerechnet, zuerst gefürchtet, zuletzt vielleicht gehofft, dass Wilhelm sich auf die Brust klopfen würde, sie hatte geglaubt, er erwarte nichts sehnlicher als diesen Umstand.
Wilhelm stand auf, er nahm Helene bei den Schultern. Bist du dir sicher? Sein Mundwinkel zuckte, da war doch ein Stolz, da war der erste Anflug von Freude, ein Lächeln.
Ganz sicher.
Wilhelm strich Helene die Haare aus der Stirn. Er blickte dabei auf seine Armbanduhr. Womöglich war er verabredet und wartete jemand auf ihn. Das freut mich, sagte er. Aufrichtig. Wirklich sehr.
Wirklich sehr? Helene blickte zweifelnd zu Wilhelm hinauf, sie suchte seinen Blick. Wenn er vor ihr stand, musste sie den Kopf in den Nacken legen, um ihm in die Augen zu sehen, und auch dann war es nur möglich, wenn er bemerkte, dass sie ihn ansah und er zu ihr hinunterblickte. Er blickte nicht zu ihr hinunter.
Was soll die Frage? Passt dir etwas nicht?
Es klingt nicht so, als ob du dich freust.
Wilhelm warf einen zweiten Blick auf seine Armbanduhr. Deine Zweifel sind entsetzlich, Alice. Ständig erwartest du etwas anderes. Ich muss jetzt dringend zu einer Verabredung. Reden wir später weiter?
Später? Vielleicht war es eine der geheimen beruflichen Verabredungen, die Wilhelm in den letzten Wochen immer häufiger abends aus dem Haus befahlen.
Mein Gott, jetzt ist nicht der Augenblick. Wenn ich zu spät zu Hause bin, dann morgen.
Helene nickte, Wilhelm griff schon seinen Mantel und seinen Hut vom Haken.
Kaum war die Tür ins Schloss gefallen, setzte sich Helene an den Tisch und vergrub ihr Gesicht in den Händen. Sie musste gähnen. Die vergangenen Monate hatten für sie aus Warten bestanden, sie hatte auf Post aus Berlin gewartet, sie hatte auf Wilhelm gewartet, dass er von seiner Arbeit zurückkam und sie Worte hören konnte, vielleicht nicht mit jemandem sprechen, aber immerhin Laute. Wenn sie ihn darum gebeten hatte, ihr die Bewerbung im Krankenhaus zu erlauben, hatte er jedes Mal abgelehnt. Die Worte, du bist meine Frau, die waren in seinen Augen Erklärung genug. Seine Frau musste nicht arbeiten, seine Frau sollte nicht arbeiten, er wollte nicht, dass seine Frau arbeitete. Schließlich hatte sie im Haus genug zu tun. Langweilst du dich etwa? Das hatte er manchmal zurückgefragt und ihr gesagt, dass sie auch die Fenster mal wieder putzen könne, schließlich wären die bestimmt schon Monate nicht geputzt worden. He lene putzte die Fenster, obwohl sie sie erst vor vier Wochen geputzt hatte. Sie rieb sie mit zusammengeknülltem Zeitungspapier ab, bis die Scheiben glänzten und ihre Hände trocken, rissig und grau von der Druckerschwärze waren. Die einzigen Menschen, mit denen sie tagsüber ein Wort wechselte, waren die Gemüsehändlerin, der Fleischer und manchmal die Fischhändlerin unten am Bollwerk. Der Krämer sprach mit Helene nicht, zumindest sagte er nicht mehr als den Preis. Ihre Begrüßung und ihr Abschied blieben unbeantwortet. Die meisten Tage vergingen, ohne dass Helene mehr als drei oder vier Sätze gesagt hatte. Wilhelm war am Abend nichts besonders gesprächig. War er zu Hause und ging nicht noch einmal hinaus, was in den letzten Wochen oft nur an ein, zwei Abenden in der Woche der Fall war, so antwortete er Helene einsilbig.
Helene saß am Tisch und rieb sich die Augen. Gewaltige Müdigkeit überkam sie. Sie musste noch die Hemden von Wilhelm waschen und die Bettwäsche mangeln. Im kühlen Vorratsschrank unter dem Fensterbrett lag der Suppenknochen. Eine kleine Luftblase in Helenes Bauch platzte. War es Luft? Sie hatte nichts Gärendes und Blähendes gegessen. Vielleicht war es das Kind. Sollte sich so eine Bewegung des Kindes anfühlen? Mein Kind, flüsterte Helene. Sie legte sich die Hand auf den Bauch. Mein Kind, sie musste lächeln. Es gab keinen Ausweg mehr, sie würde ein Kind bekommen. Vielleicht war es schön mit einem Kind? Helene dachte darüber nach, wie es aussehen würde. Sie sah ein Mädchen mit schwarzen Haaren, es sollte so dunkle Haare und glühende Augen haben wie Martha und ein so schwarzes Lachen wie Leontine. Helene stand auf, sie legte Wilhelms Hemden in den großen Wäschetopf und stellte ihn auf den Herd. Dann wusch sie die Möhren, schrappte sie und legte sie zusammen mit dem Knochen in einen Topf voll Wasser. Ein Lorbeerblatt und wenig Piment. Helene schälte die Zwiebel, steckte eine Nelke hinein und legte sie zu dem Knochen in den Topf. Sie bürstete den Sellerie, schnitt ihn entzwei und stopfte ihn zwischen Möhren und Knochen. Zuletzt wusch sie den Lauch und die Petersilienwurzel. Den Lauch durfte sie später nicht vergessen. Sie mochte es nicht, wenn der Lauch über Nacht weich in der Suppe wurde und am nächsten Tag zerfiel, sobald man ihn herausfischen wollte.
Wilhelm kam erst nach Hause, als Helene schon schlief. Am nächsten Morgen war Sonntag, und da Wilhelm von sich aus nicht auf das Kind zu sprechen kam, sagte Helene ungefragt: Es kommt Anfang November.
Was? Wilhelm schnitt sein Marmeladenbrot mit Messer und Gabel, eine Besonderheit, die Helene erst vor kurzem aufgefallen war. Erschien ihm das Brot, das sie ihm schnitt, nicht sauber aus ihren Händen?
Unser Kind.
Ach das, das meinst du. Wilhelm kaute, dass man den Speichel hören konnte. Er kaute lange. Er schluckte und legte das Besteck beiseite.
Noch eine Tasse Kaffee? Helene nahm schon die Kanne und wollte ihm nachschenken.
Wilhelm antwortete nicht, das vergaß er häufig, sie schenkte ihm Kaffee ein.
Weißt du, was ich denke…?
Hör zu, Alice. Du erwartest ein Kind, das ist richtig so. Wenn ich gestern gesagt habe, ich freue mich, dann freue ich mich, hörst du? Ich freue mich, dass du bald etwas Gesellschaft hast.
Aber?
Fall mir nicht ins Wort, Alice. Wirklich, das ist eine Unart von dir. Wir gehören nicht zusammen, das weißt du auch. Wilhelm nahm einen Schluck Kaffee, stellte seine Tasse ab und nahm sich eine zweite Scheibe Brot aus dem Korb.
Er meinte gewiss ihre Verbindung, die Ehe, sie als Frau und ihn als Mann. Etwas an dieser Nachkommenschaft störte ihn wohl. Nahm Helene an, dass er sich freute, so freute er sich offenbar nur für sie, für die Aussicht, dass sie Gesellschaft hätte und ihn nicht länger belästigte. Aber er freute sich nicht für sich selbst über ein Kind. Da war weder Freude noch Stolz in seinem Gesicht. Mochte er die Verbindung mit ihrer unreinen Rasse nicht? Helene wusste, dass er aufbrausen würde, wenn sie ihn darauf anspräche. Er wollte darüber nicht sprechen, vor allem nicht mit ihr.
Schau mich nicht so an, Alice. Du weißt, was ich meine. Du glaubst, du hast mich in der Hand? Aber du täuschst dich. Ich könnte dich hochgehen lassen. Ich lasse dich nicht hochgehen, weil du ein Kind erwartest.
Helene spürte, wie sich ihr Hals zusammenzog, sie wusste, dass sie nichts sagen sollte, aber sie musste. Weil ich ein Kind erwarte? Ich erwarte ein Kind von dir, es ist unser Kind.
Reg dich nicht so auf, hörst du, brüllte Wilhelm jetzt und schlug mit der Faust auf den Tisch, dass die Tassen auf ihren Untertassen klirrten.
Du hast das Kind gezeugt, Wilhelm.