Das behauptest du. Wilhelm schob Teller und Tassen beiseite, er sah sie nicht an, in seiner Stimme lag mehr Empörung und Rechtfertigung als Betroffenheit. Plötzlich fiel ihm etwas ein. Spott trat in sein Gesicht. Wer sagt mir, dass du nicht noch mit anderen schläfst, du, du…? Wilhelm stand jetzt auf, ihm wollte das Wort nicht einfallen, mit dem er sie passend beschimpfen konnte. Hündin, fiel es ihm wirklich nicht ein? Seine Lippen waren fest und man konnte die Zähne sehen, die in geraden Reihen übereinander standen. Es machte ihn böse, einfach nur böse. Ich sage dir etwas, Alice: Es ist mein Recht, hörst du, mein gutes Recht, dir beizugehen. Du hast das auch genossen, gibs zu. Niemand hat dir gesagt, dass du dabei schwanger werden sollst.
Nein, sagte Helene leise, sie schüttelte den Kopf, das hat mir niemand gesagt.
Na also. Wilhelm faltete seine Hände auf dem Rücken, er ging auf und ab. Du solltest dir so langsam Gedanken machen, wovon du deine Brut ernähren möchtest. Ich bin nicht bereit, allein für dich und dein Kind aufzukommen.
Helene hörte das gar nicht ungern, wie oft hatte sie in den vergangenen Monaten um seine Erlaubnis gebeten, wie gerne wollte sie wieder in einem Krankenhaus arbeiten. Ihr fehlten die Kranken, die Gewissheit, dass das, was sie tat, einem Menschen half, dass sie nützlich war. Aber Helene fand jetzt keine Ruhe, darauf einzugehen. Sie musste etwas anderes sagen, er würde ihr an den Hals gehen, aber sie musste es ihm sagen. Helene blickte zu ihm auf. Ich weiß, warum du mich nicht hochgehen lässt. Weil du die Papiere gefälscht hast, weil du mich gar nicht hochgehen lassen kannst, ohne selbst dabei aufzufliegen.
Wilhelm sprang auf sie zu, sie hielt sich noch schützend die Hände über den Kopf, er packte ihre Arme, hielt sie an den Armen fest und zwang sie, vom Stuhl aufzustehen. Der Stuhl krachte unter ihr zu Boden. Wilhelm schob sie durch die Küche bis an die Wand. Er presste sie an die Wand, ließ sie mit einer Hand los, nur um mit der flachen Hand ihren Kopf gegen die Wand zu drücken, dass es weh tat. Niemals, hörst du, niemals sagst du das noch einmal. Schlange, du. Ich habe nichts gefälscht, gar nichts. Ich habe dich als Alice kennengelernt. Wo du die Papiere her hast, geht mich nichts an. Niemand wird dir glauben, damit das klar ist. Ich werde sagen, dass du mich angelogen hast, Helene Würsich.
Sehmisch, ich heiße Sehmisch, ich bin deine Frau. Helene konnte ihren Kopf nicht bewegen, sie drehte sich und wendete sich unter Wilhelms starken Pranken.
Er legte ihr seine Hand auf den Mund, seine Augen blitzten: Halt den Mund. Er wartete, sie konnte nichts sagen, weil er ihr die Hand auf den Mund presste. Du schweigst, damit das klar ist. Ich sage das kein zweites Mal.
An einem Abend im September hatte Wilhelm zwei Kollegen eingeladen, mit denen er an den großen Werken in Pölitz arbeitete. Helene sollte von den Umbauten und Planungen nichts wissen, nur beiläufig hatte sie das eine und andere aufgeschnappt, sie hütete sich, Wilhelm Fragen zu stellen. Mit diesen beiden Kollegen plante er wahrscheinlich die neue Gestaltung des Geländes. Arbeiter mussten untergebracht werden, ganze Kolonnen sollten in dem Lager auf dem Gelände Platz haben. Das Hydrierwerk benötigte einen Bauplan, der über die chemische Aufbereitungsanlage hinaus eine sinnvolle Verkehrs- und Versorgungslogistik verlangte. Wilhelm stellte den beiden Kollegen Helene als seine Frau vor. Sie hatte auf sein Geheiß hin einen Aal grün zubereitet und bediente jetzt die drei Männer, die um den Tisch saßen.
Bier, rief Wilhelm und hielt seine leere Flasche hoch, ohne sich nach Helene umzudrehen. Beinahe stieß er mit der Flasche gegen Helenes Bauch. Helene nahm ihm die Flasche ab. Die Herren?
Einer der beiden hatte noch, der andere nickte, nur zu, Bier könne nicht genug fließen.
Mensch, Wilhelm, kochen kann deine Frau.
Aal grün, das war die Spezialität meiner Mutter, schwärmte der andere.
Zu irgendwas ist jede gut, Wilhelm lachte und nahm einen ordentlichen Schluck aus seiner Flasche. Sein Blick streifte flüchtig Helenes Schürze. Da wächst ja was, lachte er und griff übermütig mit einer Hand an ihre Brust. Helene wich zurück. Hatten es seine Kollegen gesehen und gehört? Helene drehte sich um, niemand musste sehen, dass sie rot wurde.
Wann ist es denn so weit? Der junge Kollege blickte auf seinen Teller, als befrage er den Aal.
Alice, wann ist es so weit? Wilhelm war bester Laune, vergnügt blickte er sich nach Helene um, die die letzten dampfenden Kartoffeln in eine Schüssel füllte und sie auf den Tisch stellte.
In sechs Wochen, Helene wischte sich die Hände an ihrer Schürze ab und nahm den Löffel, um den Männern die Kartoffeln auf die Teller zu laden.
In sechs Wochen schon? Es war nicht klar, ob Wilhelm wirklich überrascht war oder nur so tat. Kinder, wie die Zeit vergeht.
Und da bewirbst du dich nach Berlin? Der ältere Kollege war erstaunt. Helene wusste nichts von einer Bewerbung Wilhelms nach Berlin.
In den jetzigen Zeiten wird man doch überall gebraucht, Königsberg, Berlin, Frankfurt, Wilhelm prostete seinen Kollegen zu. Pölitz ist bald durch, da muss man schon sehen, was als nächstes zu tun ist.
Richtig, sagte der jüngere Kollege und trank.
Helene gab zuletzt Wilhelm Kartoffeln auf den Teller. Sie dampften noch, vielleicht war es zu kalt in der Küche. Sie musste Kohlen nachlegen. Seit Helene das Kind erwartete, fror sie nicht mehr und merkte erst spät, wenn die Wohnung ausgekühlt war.
Lass man, Alice, das schaffen wir hier schon allein. Du kannst dich jetzt zurückziehen. Wilhelm rieb sich die Hände über dem dampfenden Teller.
Es stimmte, die Männer hatten ihr Essen und Wilhelm wuss te, wo das Bier stand, er konnte selbst aufstehen und für Nachschub sorgen. Als Helene aus der Küche ging, hörte sie ihn zu den Kollegen sagen: Kennt ihr Renate-Rosalinde mit dem Drahtverhau?
Die Kollegen grölten schon, ehe Wilhelm fortfahren konnte.
Fragt sie den Urlauber: Was sagst du zu meinem neuen Kleid? Fabelhaft, der Gefreite, man kann es geradezu mit einem Drahtverhau vergleichen.
Die Männer lachten tosend. Helene stellte im Schlafzimmer nebenan das Bügelbrett auf.
Drahtverhau, fragt die Schöne, wieso denn? Na, der Gefreite schmunzelt und lässt die Augen rollen, schützt die Front, ohne sie den Blicken zu entziehen.
Lachen. Helene hörte die Flaschen klirren und wie auf den Tisch geklopft wurde. Einer der Kollegen, vermutlich der ältere, sagte: Verdient ist verdient.
Wilhelms Lachen übertrumpfte das seiner Kollegen.
Helene nahm das Hemd, das Wilhelm am nächsten Tag anziehen würde, aus dem Korb und bügelte es. Wilhelm hatte ihr vor einigen Wochen zum Geburtstag ein elektrisches Bügeleisen geschenkt. Das Bügeleisen war seltsam leicht, Helene glitt damit so schnell über den Stoff hinweg, dass sie sich ermahnen musste, langsamer zu bügeln. Nebenan wurde laut gelacht, immer wieder hörte Helene, wie die Flaschen aneinanderklirrten. Das Kind in Helenes Leib strampelte, es stieß gegen ihre rechte Rippe, die Leber schmerzte, und Helene nahm eine Hand, um zu spüren, wie hart sich die Beule ihres Bauches anfühlte. Vermutlich war es der Steiß, den es nur noch mit Mühe von der linken Seite hinüber zur rechten wenden konnte, dabei drückte sich die Beule unter der Bauchdecke entlang. Das Köpfchen in ihr saß jetzt manchmal so schmerzhaft auf ihrer Blase, dass Helene ständig hinaus auf die halbe Treppe musste. Wilhelm störte es, wenn sie während der Nacht den Topf benutzte, sie sollte hinausgehen, wenn sie musste. Das lange Tröpfeln, zu dem sich ihr Strahl in den letzten Wochen verändert hatte, musste Wilhelm unerträglich sein, vielleicht ekelte er sich jetzt vor ihr. Seit jener Auseinandersetzung im Frühjahr hatte Wilhelm sie nicht mehr angerührt, kein einziges Mal mehr. Anfangs dachte Helene, er sei nur etwas ärgerlich, aber seine Lust würde sich schon wieder regen. Sie kannte ihn doch, sie wusste zu gut, wie häufig ihn das Verlangen, die unstillbare Gier überkam. Doch nach Tagen und Wochen wurde Helene bewusst, dass sein Verlangen nicht mehr an sie gerichtet war. Ob es daran lag, dass sie ein Kind erwartete und er mit keiner Frau schlafen wollte, die ein Kind erwartete, weil er das Kind in ihr nicht aufstören wollte und ihm ihr Leib zunehmend missfiel, oder ob er schlicht die Folge seiner Lust so erschreckend und schlimm fand, das Bewusstsein dafür, dass ein Kind gezeugt worden war, das fragte sich Helene nur selten. Einmal war sie gegen Morgen aufgewacht und hatte ihn in der Dunkelheit auf der anderen Seite des Bettes flach atmen hören. Seine Decke bewegte sich rhythmisch, bis irgendwann die Andeutung eines hohen Fiepens zu hören war, wie er die angestaute Luft hinausließ. Helene hatte so getan, als schliefe sie, und es sollte nicht das einzige Mal bleiben, dass sie ihn nachts so hörte. Er tat ihr nicht leid, sie war auch nicht enttäuscht. Eine angenehme Gleichgültigkeit erfasste Helene in Bezug auf ihren Ehemann. In anderen Nächten blieb er lange fort und roch sie die Süße eines Parfüms noch so eindeutig, wenn er morgens betrunken in ihr Zimmer stolperte und auf das Bett sackte, dass Helene wusste, er war bei einer anderen Frau gewesen. Auch in solchen Nächten gab sie sich schlafend. Es war nur gut, wenn sie einander in Ruhe ließen. Tags über, wenn Helene vom Einkaufen zurückkam, saubergemacht und die erste Wäsche eingeweicht und aufgesetzt hatte, las sie gern eine halbe Stunde. Jeder Mensch macht mal eine Pause, sagte sie sich. Sie las das Buch eines Jungen, der in Berlin eine Dienerschule besucht. Benjamenta heißt sein Institut. Gut denken, gut meinen. Die vollkommene Tilgung eines eigenen Willens, was für eine köstliche Idee. Öfter musste Helene schallend in sich hineinlachen, lautlos. Kaum jemals hatte sie sich von einem Buch so innig unterhalten gefühlt. Wenn sie lachte, wurde ihr Bauch ganz fest und hart, die Gebärmutter spannte sich, der große Muskel schützte das Kleine vor jeder heftigen Erregung. Sie hatte sich das Buch aus der verbotenen Bibliothek am Rosengarten ausgeliehen, weil es in der Volksbücherei keine Bücher mehr aus diesem Verlag gab. Helene dachte an das zauberhaft schwarze Lachen von Leontine, an die köstliche Zärtlichkeit von Carls Lippen, seine Augen, seinen Körper. Es war gar nicht so leicht, mit dem Arm an dem dicken Bauch vorbeizulangen, auch konnte sie nicht mehr, wie früher so gerne, sich ein Kissen zwischen die Schenkel drücken und auf dem Bauch liegend die Bewegungen suchen, der Bauch war zu dick, als dass sie auf ihm liegen konnte, jetzt streichelte Helene sich nur und dachte an gar nichts.